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Kleiner Exkurs:

Kapital und Menschenrechte

Der in die Form positiver Rechte gegossene „Mensch“, mit nichts als der Freiheit ausgestattet, nach eigener Fasson glücklich zu werden, ist an sich ein ziemlich armseliges Geschöpf. Zu seinem wirklichen Glück fehlt ihm – fast alles, was es dazu auf Erden braucht, außer eben jenem Recht, es sich zu suchen, das naturgemäß die Garantie ausschließt, daß er es auch findet. Die positive Verwirklichung dieses Geschöpfs nahm hier in Westeuropa mit der vor fünfhundert Jahren einsetzenden sogenannten „ur­sprüng­li­chen Akkumulation“ des Kapitals ihren Lauf: In der äußerst gewaltsamen massenhaften Vertreibung der bäuerlichen Bevölkerung von Haus und Hof, ihrer Enteignung von ihren sämtlichen Subsistenzmitteln, so daß sie schließlich gezwungen war, das einzige, was man ihr gelassen hatte, ihre Arbeitskraft, massenhaft zu Markte zu tragen.

 

Den damit geschaffenen Typus eines eigentumslosen sozialen Individuums hatte die Geschichte unserer Menschwerdung bis dahin noch nicht gesehen. Weder die Leibeigenen der Feudalzeit, noch die Sklaven der Antike waren so radikal eigentumslos wie dieses neue, moderne Proletariat: Denn soweit jene als Leibeigene oder Sklaven fungierten, soweit sie also als die Objekte solcher vormodernen Ausbeutung ihrer Arbeit zugerichtet waren, waren ihnen immerhin die Lebensmittel garantiert, deren sie zum Fristen ihrer knechtischen Existenz bedurften. Das moderne proletarische Individuum ist dagegen für seine Ausbeutung immer schon zugerichtet, bevor es in ein bestimmtes Verhältnis zu einem bestimmten Ausbeuter tritt. Es ist unabhängig von irgendeinem persönlichen Verhältnis durch seinen eigenen armseligen materiellen Zustand gezwungen, sich in ein ausbeuterisches Verhältnis zu begeben, weil es immer schon nicht nur von sämtlichen Produktionsmitteln, sondern auch von seinen Lebensmitteln enteignet ist. Diese nehmen, wie alles in der modernen, bürgerlichen Welt, die Form von Waren an: einer ökonomischen Form, in der die nützlichen Dinge dieser Welt denjenigen, die sie besitzen, konkret nichts nützen, und denjenigen, die ihrer konkret bedürfen, als fremdes Eigentum entgegentreten, daher ausgetauscht werden, ihren Eigentümer wechseln müssen, bevor sie gebraucht werden können.

 

Dieser neu geschaffene Sozialtypus – vollständig reduziert auf nichts als die in seiner physischen Existenz selbst begründete und davon nicht zu trennende bloße Fähigkeit, sich produktiv zu betätigen, befreit von sämtlichen außerpersönlichen, sachlichen Voraussetzungen, seine Fähigkeit in eigener Regie zu realisieren – entspricht nun bru­tal genau jenem esoterischen Geschöpf, das die Menschenrechte zum Gegenstand haben. Dessen als natürlich angenom­mener Trieb, das „Streben nach Glück“, erhält in seiner rauhen bürgerlichen Wirklichkeit allerdings eine ungleich profanere Daseinsweise: Der auf seine nackte Physis heruntergestutzte Mensch wird von seinem knurrenden Magen und seinen frierenden Knochen regelmäßig daran erinnert, daß zum wirklichen Mensch­sein doch etwas mehr gehört als das reine Selbst, das frei über sich und sonst gar nichts bestimmen darf. Die vornehme Jagd nach dem Glück realisiert sich als permanenter Kampf der Habenichtse um ihr nacktes Dasein.

 

Nun weiß heute wohl jedes Schulkind, daß zwar das Aufkommen der Idee der Menschenrechte zeitlich und räumlich zusammenfällt mit dieser ersten massenhaften Enteignung der unmittelbaren Produzenten, daß aber die Verkünder jener Idee keineswegs den Habenichts, sondern den besitzenden Bürger als ihre Inkarnation und praktische Grundlage ansahen. Herr und Frau Habenichts zählten gar nicht als soziale Individuen. Sie standen außerhalb der offiziellen Gesellschaft, waren asozial und allenfalls durch ihre Erhebung in den Stand von Eigentümern zu sozialisieren.[1] Der mit nichts als dem eigenen Fleiß und Geschick zu Wohlstand und Ansehen gelangte Bürger war das aktive, bewegende Element der Zeit; das sich um ihn herum akkumulierende Elend schien nur den notwendigen Kontrast zu bilden, vor dem die Tugend des erfolgreichen Bürgers um so heller erstrahlte. Jeder soll nach dem Glück streben dürfen, aber nicht jeder hat es sich schließlich verdient, denn was bräuchte es das Streben, wenn am Ende doch alle ihr Glück geschenkt bekämen!

 

Aber wie die Menschenrechte die Auskunft darüber verweigern, was denn aus ihrem Schützling wird, wenn dessen Jagd nach dem Glück ihr Ziel erreicht hat, so büßt der praktizierende Bürger im selben Maße seine soziale Substanz ein, in dem sich sein Reichtum akkumuliert. Beiden ist gemeinsam, daß sie eine an sich rein negative Grundlage besitzen. Ist die Voraussetzung der Menschenrechte der unglückliche Mensch, so die des akkumulierenden Bürgers die zur Ware gewordene, weil von ihren gegenständlichen Bedingungen und Resultaten getrennte, daher sich selbst entfremdete menschliche Arbeitskraft. Was sich im Reichtum des Bürgers akkumuliert, ist bloß diese Trennung der objektiven von den subjektiven Bedingungen der Arbeit, der Produktion des menschlichen Lebens. Reichtum ist das Eigentum des Bürgers, das Kapital, nicht als Mittel seines persönlichen Genusses (welchen unmittelbaren Genuß könnte beispielsweise der tägliche Output einer Wurstfabrik deren Besitzer bereiten?), sondern nur als Mittel zur Schöpfung neuen Reichtums: es ist tatsächlich nichts als der Reichtum der Produktivität des arbeitenden Subjekts selbst, seiner produktiven Möglichkeiten, die aber in ihrer Verwirklichung regelmäßig von diesem Subjekt sich entfernen, absondern, sich ihm entfremden und es sich unterwerfen.

 

Die – keineswegs geringzuschätzende – historische Leistung der bürgerlichen Klasse besteht gerade nicht in dem, was sie selbst mit ihrem weit in die Linke hineinreichenden intellektuellen Anhang sich darüber einbildet: Die Bourgeoisie hat niemals irgendwelchen herrenlos herumliegenden Reichtum angehäuft und sie hat ihn sich auch nicht vom Munde abgespart. Ihre sogenannte „ursprüngliche Akkumulation“ war von Anfang an die Anhäufung bereits bestehenden, fremden Eigentums: Die Verwandlung des kleinen Eigentums einer zersplitterten Vielzahl für sich selbst (und ihre Herren) arbeitender in das große Eigentum weniger nichtarbeitender Menschen. Es ist wesentlich diese durch und durch böse, zerstörerische Tat, in deren Verlauf den unmittelbaren Produzenten ihre übersichtliche, selbstgenügsame, heimelige Produktionsstätte über dem Kopf abbrennt und sie selbst sich in hilf- und herrenlose Arbeitstiere verwandeln, womit sich die Bourgeoisie unsterbliche Verdienste um das Menschheitsschicksal erworben hat. Es ist diese fortwährende Vernichtung aller natur- wie kulturwüchsigen, d.h. in ihrem eigenen Werdegang zwischenzeitlich entstehenden, partikularen, abgesonderten Kollektive, die mitleidlose, unsentimentale Vernichtung aller jeweils hergebrachten „sozialen Strukturen“ (um es in der auch linksradikal gehätschelten Terminologie auszudrücken), die von der Bourgeoisie bleibt und bleiben wird; selbst dann noch, wenn auch empirisch der Sozialtyp des praktisch gestaltenden, organisierenden Bürgers vollends ins Reich der Mythologie entschwunden ist. Denn mit dieser Tat bereitet sie noch heute jedesmal gründlicher den Boden für ein menschliches Miteinander, das erstmals nicht mehr beruht auf der unmittelbar überschaubaren Enge des je individuellen Gesichtskreises; schafft sie die Voraussetzung für einen Kommunismus, in dem die Menschen nicht mehr ihre Armut sowohl an ihren Bedürfnissen als auch an den Mitteln, sie zu befriedigen, sondern den unendlichen Reichtum ihrer schöpferischen Kräfte miteinander teilen.

 

So auch verhält es sich mit den Menschenrechten. Wer sie als positive Errungenschaft nimmt, wird an ihnen irre und kann am Ende praktisch gar nicht anders, als sich in Mord und Todschlag zu üben. Zumal in einer Zeit, da von irgendeiner Idee, über sie hinaus zu kommen, weit und breit nichts zu vernehmen ist, vielmehr gerade die vehemen­testen Opponenten des Systems sich stur weiter darin gefallen, von „moralischer Ökonomie“ zu schwärmen, von den ewig guten alten Zeiten jener armseligen Subsistenz, der das Kapital tagtäglich aufs neue und gründlicher den Garaus macht. Nato plus albanisierende Guerilla: das ist für das Kosovo derzeit die ebenso wortgetreue wie sinngemäße Übersetzung aller denkbaren Kombinationen von Men­schen­rech­ten und Subsistenz in praktische Politik.

Revolutionäre schätzen dagegen an den Menschenrechten vor allem die mit ihnen ausgesprochene radikale Negativität, die von allen wirklichen, erdverbundenen, lebendigen Menschenwesen nichts mehr übrig läßt, als ihr gott- und weltverlassenes, abstraktes Selbst, die sie keinerlei besonderem Kollektiv mehr anheimgibt und ihnen so keinen anderen Ausweg läßt, als endlich universelle, universell kooperierende, d.h. erst wirklich menschliche Individuen zu werden. Revolutionäre schätzen an den Menschenrechten die völlige Haltlosigkeit ihres wirklichen Inhalts, die völlige Unmöglichkeit, sich mit ihnen gemütlich einzurichten. Und diese spezifische Wertschätzung verbietet es ihnen, irgendeinen eigentlichen Inhalt derselben zu reklamieren, auf dessen materieller Einlösung gegenüber der im Namen der Menschenrechte stattfindenden offiziellen Politik gepocht werden könnte.



    [1]   Wie so häufig stellt sich hier das, was gerade historisch geschieht, in der Idee, in dem Bild, das sich die denkenden Zeitgenossen davon machen, nicht nur überhaupt unrichtig, verzerrt dar, sondern regelrecht auf den Kopf: Nicht nur verkennt die Idee den historischen Charakter des Geschehens und damit ihre eigene historische Bedingtheit. Vielmehr erscheint das an sich dem Vorgang Vorausgesetzte, der mit seinen Produktionsbedingungen verwachsene Produzent, als das jedesmal von neuem erst zu erringende Resultat, sein wirkliches Resultat aber, die mit ihrem wachsenden Gewicht fortwährend sich vertiefende Trennung der sachlichen Produktionsbedingungen vom Produzenten, als die allernatürlichste Voraussetzung. Andererseits lebt im Ausschluß der eigentumslosen Proleten aus der offiziellen Gesellschaft noch eine schwache Erinnerung daran fort, daß der wirkliche, nämlich der wirklich vorausgesetzte Mensch keineswegs eigentumslos ist.

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Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

Wertkritischer Exorzismus
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Finanzmarktkrise