Matthias Grewe, Ansgar Knolle-Grothusen
Die Lebenden müssen sich
von der Last der Toten befreien*
Die Herstellung der Einheit der revolutionären Linken
durch Offene Kommunistische Foren
„Kurt Tucholsky: ‚Man hat eine Niederlage erlitten. Man ist so verprügelt worden wie seit langer Zeit keine Partei (...) Nun ist mit eiserner Energie Selbsteinkehr am Platze. Nun muß, auf die lächerliche Gefahr hin, daß das ausgebeutet wird, eine Selbstkritik vorgenommen werden, gegen die Schwefellauge Seifenwasser ist. Nun muß – ich auch! ich auch! – gesagt werden: Das haben wir falsch gemacht, und das und das – und hier haben wir versagt. Und nicht nur die anderen (...), sondern wir alle haben.‘ So Tucholsky im Dezember 1935 an Arnold Zweig, dem er ebenso mitteilt: ‚Und hier ist das, was mich an der deutschen Emigration so abstößt: es geht alles weiter, wie wenn gar nichts geschehen wäre. Immer weiter, immer weiter – sie schreiben dieselben Bücher, sie halten dieselben Reden, sie machen dieselben Gesten.‘“ (Thomas Kuczynski)
In einem ist Gerhard Branstner sicher zuzustimmen: Die revolutionäre Linke krankt nicht daran, daß sie sich zuviel streitet, sondern daran daß sie sich viel zu wenig streitet. Eines der ganz großen Defizite der Kommunisten heute ist ihre so darniederliegende kümmerliche Debattenkultur. Ihre gegenseitige Ignoranz und das Verharren in den eigenen – geschichtlich meist längst überholten – Ideologie- und Organisationsgefängnissen ist tödlich. Insoweit sind die von offensiv initiierten und mit anderen zusammen organisierten „Inhaltskonferenzen der Linken“, als ein Versuch die Bornierungen aufzubrechen und die aktuelle revolutionäre Debatte unter allen Sozialisten und Kommunisten in Gang zu bekommen, zu begrüßen. Dieses Moment war es wohl auch, neben der in diesem Sinne verdienstvollen publizistischen Arbeit der Offensiv selbst, welches die Beteiligung des Offenen Kommunistischen Forums (OKF) in seiner Gänze an den Inhaltskonferenzen hervorrief. Schrieb dieses doch in seiner Selbstdarstellung von 1996: „Wir haben uns zum ‚Offenen Kommunistischen Forum‘ zusammengefunden, um einen organisationsübergreifenden Dialog mit dem Ziel des besseren gegenseitigen Verständnisses zu führen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten in unseren politischen und organisatorischen Auffassungen herauszuarbeiten, uns über unsere politische Arbeit gegenseitig zu informieren und dort wo es sinnvoll und möglich erscheint, gemeinsames oder paralleles Handeln über historisch gewachsene Organisationsgrenzen hinaus zu initiieren.“
Die unterschiedlichen Parteien, Organisationen und Gruppen der zersplitterten Linken haben ihre je spezifischen geschichtlichen Konstitutionsbedingungen und je für sich ideologischen Begründungszusammenhänge. Und doch haben sie in ihrer Entzweiung bis hin zu offener Feindschaft gegeneinander gemeinsame Wurzeln, ja entstammen nicht selten historisch derselben Organisation, zumindest aber der gleichen ideologischen Tradition. Das Scheitern des ersten großen Anlaufs zur kommunistischen Weltrevolution, eingeleitet mit seinem Steckenbleiben im Westen, namentlich in Deutschland spätestens wohl 1923, ließ den Sozialismus zu einem in einem Land werden; eine contradictio in adjecto. Die weltkommunistische Bewegung zerfiel in ebenso viele Splitter als es Möglichkeiten der Kritik des aktuellen Versagens der Revolution sowie ihres projektierten Wiederaufnehmens und Weitertreibens gab, oder hielt einfach an dem fest, was tatsächlich an ihr über den Kapitalismus hinauswies. Die heutige aktuelle Gestalt der zerklüfteten, ziemlich ruinierten Landschaft der revolutionären Linken ist das traurige Überbleibsel des ersten großen Anlaufs des Kommunismus, der nach 1989 sich endgültig als wirkliche Sackgasse herausgestellt hat. So wie dieser Versuch damit passé ist, nicht mehr die Kraft entfalten konnte doch noch zum Weltkommunismus voranzuschreiten, müssen die seinen Geist ausatmenden Gruppen und Gruppenkonstellationen sich von den geschlagenen Schlachten, den Strickmustern der Vergangenheit lösen und sich den Anforderungen der Gegenwart stellen, oder auch ihren letzten Atemzug tun und vergehen. Wurde die Auseinandersetzung unter den Linken bisher beherrscht und getragen von der vergangenen Etappe, ihrer Entwicklung, ihren Verwerfungen, ihren Konzepten und deren Persönlichkeiten, herrschte also ab einem bestimmten Moment in zunehmendem Grade die Vergangenheit über die Gegenwart, müssen wir heute lernen – wollen wir ernsthaft den Kraftakt auf uns nehmen, einen neuen, noch großartigeren, endlich zum Ziel führenden Übergang zum Kommunismus zu organisieren – dieses Verhältnis umzukehren. Der ganze Erfahrungsschatz in Theorie und Praxis des real existiert habenden Sozialismus einschließlich seiner Kritik sind das Erbe eines Toten an die Lebenden. Die Gegenwart muß allerdings über die Vergangenheit herrschen. Daher müssen wir uns gemeinsam die notwendige Souveränität aneignen, uns nicht mehr länger beherrschen zu lassen von ideologischen Figuren, deren Realität vergangen ist. So wie aber die Toten die aktuelle Gestalt der heutigen Welt durchaus mit geschaffen haben, so auch dieser vergangene Anlauf zum Kommunismus seine aktuellen Nachwehen.
Der Aufbruch der 68er Bewegung in Westdeutschland konnte die Aufgabe der Einheit der Kommunisten noch nicht wieder erfüllen und damit die Organisationsfrage nicht positiv beantworten. Standen die Linken doch damals noch mittendrin in einer welthistorischen gesellschaftlichen Situation, die jeder der agierenden Gruppen und ihrem Konflikt mit den jeweils anderen ein Stück Realität auf dem Globus zusprach, und die Sache tatsächlich als noch nicht ausgemacht kennzeichnete. Das ist sozusagen der harte, reale Kern der, wie Frank Flegel sagt, „Uneinigkeit der antikapitalistischen Linken (West) in ihrer bekannten destruktiven Art.“ Das „übliche, im Westen schon Jahrzehnte alte vollkommen unproduktive Hick-Hack …“[1]. Gab es damals also objektive, sich zum Teil auch staatlich manifestierende, handfeste Gründe für diese Uneinigkeit und dieses Hick- Hack, so besteht es heute zu großen Teilen nur mehr aus niedergeschriebener und unterschiedlich interpretierter Geschichte. Diese Geschichte soll nun nicht versöhnlerisch beiseite geschoben werden. Ganz im Gegenteil! Sie muß und sie wird an die Oberfläche, in unser aller Bewußtsein gehoben werden müssen. Allerdings so herum, daß wir sie beherrschen, von ihr lernen und sie produktiv auf die Zukunft anwenden können. Und nicht so, daß sie jeden gemeinsamen Lernschritt verhindert, weil sie uns in alten Konstellationen gefangen hält und damit die Zukunft blockiert, weil die Vergangenheit über die Gegenwart herrscht.
Letzteres ist immer noch der Normalzustand. Will man also diesen Zustand beenden und den proletarisch-praktischen Kommunismus starkmachen, drängt man also auf die Einheit der Kommunisten, ohne das Problem ihrer völligen Zersplitterung zu ignorieren, muß man zwangsläufig quer zu den aktuellen Organisationsformationen denken und handeln. Dies kann höchstens aus den Schützengräben der schon geschlagenen und beendeten Schlacht heraus als ketzerisch charakterisiert werden. Die Situation steht so: Jeder der Splitter hält sich historisch und/oder ideologisch für den legitimen Erben der realhistorischen kommunistischen Bewegung, hält sich für das Ganze oder zumindest doch dessen organisatorischen Kern und verharrt deshalb auch in seiner autistischen Borniertheit. Jeder Splitter will natürlich auch die Einheit der Kommunisten. Diese soll allerdings unter seinen Fittichen vonstatten gehen, die jeweils Anderen sollen sich anschließen, ohne daß man selbst sich – welche Zumutung – auch nur um ein Jota bewegt. Solange diese gegenseitige Lern- und Handlungsblockade anhält, kann jeder immer mal wieder aus seinem mehr oder weniger gut ausgebauten Schützengraben heraus Schüsse nach allen Seiten verteilen, den einen oder anderen Waffenstillstand schließen oder auch mal ein Bündnis eingehen; ändern wird sich die Situation so nicht. Der sporadisch immer mal wiederkehrende Schrei nach Einheit bleibt also ein Lippenbekenntnis, weil nicht das organisatorische Werkzeug geschmiedet wird, welches das benannte Problem anzugehen in der Lage ist.
Das Ziel soll eine starke vereinigte kommunistische Partei mit einheitlichen Programm sein. Der momentane Zustand blockiert aber derlei Möglichkeit. Es muß also etwas Prozeßhaftes, Übergangsfähiges in ihn eingezogen werden, welches die Sammlung der Kommunisten jetzt schon ermöglicht. Dies kann dem Ist-Zustand zufolge nur in Formen geschehen, die der inhaltlichen Konfusion und organisatorischen Zersplitterung der revolutionären Linken Rechnung tragen. Diese Formen müssen Rücksicht nehmen auf die organisatorischen Verpflichtungen der in ihr agierenden Individuen und Gruppen. Und sie muß in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten den Grund der Zersplitterung der revolutionären Linken stellen. Voila! Das Offenen Kommunistische Forum bietet einen Lösungsweg für diese Aufgabe an. Es heißt in seiner Zielstellung dazu: „Dabei geht im OKF niemand als Vertreter einer Gruppe oder Organisation eine Verpflichtung ein. Die Abstimmungen und Übereinkünfte des OKF sind für niemanden verbindlich. Die Statuten und Programme der Organisationen, aus denen die Teilnehmer stammen, werden respektiert. Dadurch entsteht im OKF ein Raum für einen wirklich offenen Ideenstreit, dessen Rahmen und Öffentlichkeit durch jeden Teilnehmer selbst bestimmt werden.“ Das OKF kann als Beispiel dienen, gegenüber den Beharrungs- und Trägheitskräften einen Schritt nach vorne zu gehen und Bewegung in die Sache zu bringen, die veränderungswilligen, selbsttätigen, nicht bornierten und nicht ignoranten Kräfte in Diskussion miteinander zu bringen.
In dem bis hierher Entwickelten steckt natürlich, neben den Gemeinsamkeiten im Wollen, implizit jede Menge Kritik an der Konzeption der „Inhaltskonferenzen der Linken“. So war es für die an den Übergänge zum Kommunismus beteiligten Genossen von vornherein klar, daß die so organisierte Veranstaltungsreihe den sich historisch stellenden Aufgaben nicht gewachsen sein wird. Die geschichtlich entstandene und noch nicht geringer gewordene theoretische und praktische Konfusion macht sich natürlich mit Wucht in so einem Forum wie den Inhaltskonferenzen geltend. Was sich über Jahrzehnte angesammelt hat, kann nicht mit einer raschen Folge von Konferenzen bewältigt werden. Es bedarf einer längerfristig angelegten, der wirklichen Gegensätzlichkeit der Auffassungen ihren Raum und Zeit zu ihrer Austragung gewährenden, zugleich verbindlicheren Form.
Der „wirklich offene Ideenstreit“ des OKF zeigt seine durchaus befruchtende und konstruktive Wirkung auf die einzelnen am OKF beteiligten Individuen und Gruppen. So ist die „Unverbindlichkeit“ des OKF nicht selten längst verdrängt durch ein hohes Maß an freiwilliger Zusammenkunft und Absprache. Und die ausgesprochene Hoffnung „gemeinsames oder paralleles Handeln über historisch gewachsene Organisationsgrenzen hinaus zu initiieren“, hat sich heute als begründet herausgestellt. Gleichwohl gibt es auch nach mittlerweile – in heutiger Zusammensetzung – zweijährigem Bestehen nicht selten großen Streit über verschiedenste Fragen und eine Einheit über das OKF hinaus scheint nach wie vor fern zu liegen, wenn nicht gar für Einzelne unerreichbar. Aber innerhalb des OKF besteht – und auch das OKF nach außen hat – längst eine theoretische und praktische Praxis, die die Einheit der Kommunisten so ausdrückt, wie sie heute nur möglich ist.
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen und der Konsolidierung eines so heterogen verfaßten Forums, wie es das OKF darstellt, ist die von Frank Flegel und Anna C. Heinrich aufgeworfene Frage, ob die Inhaltskonferenzen abgebrochen oder fortgesetzt werden sollen, nur mit „Fortsetzen!“ zu beantworten. Um allerdings tatsächlich ihrer Aufgabe gerecht zu werden, muß die Konzeption der Veranstaltungsreihe modifiziert werden. Sie müßte als langfristiges nationales bzw. sogar internationales (s. die 2. Konferenz in Köln) offenes Forum konstituiert werden. Zusammenkünfte könnten so regelmäßig, aber in Berücksichtigung unserer schwachen Kräfte momentan, in größeren Abständen, organisiert werden. Dies hätte den Vorteil, daß die Treffen inhaltlich wesentlich besser vorbereitet und nachbereitet werden könnten. Die Inhaltskonferenzen liegen von vornherein quer zu den traditionellen Organisationen, ebenso wie das OKF, und müssen deshalb damit rechnen, von denen boykottiert zu werden, die nur unter sich bleiben wollen, sich separieren, sich von allen anderen abspalten und deshalb auch die wirklichen Sektierer sind. Auf die Schwierigkeiten miteinander zu verweisen, ist kein hinreichender Grund, sich diesem Prozeß zu verweigern. Deshalb kann es auch aktuell nicht so sehr um große Massen von Menschen gehen, die sich an solchen Inhaltskonferenzen beteiligen. Aktuell geht es um Qualität vor Quantität, Propaganda vor Agitation. Irgendwann schlägt das eine ins andere um. Daß sich an einer solchen offenen Organisationsform (der es aber nicht versöhnlerisch um die Verdrängung der Widersprüche geht, sondern genau umgekehrt um die Möglichkeit sie offen auszutragen) auch Gruppen und Individuen beteiligen, die wiederum für jeweils andere eine Zumutung sind, muß bei dem momentanen elenden Zustand der kommunistischen Bewegung in Kauf genommen werden. Es kann ja bei Inhaltskonferenzen auch nicht darum gehen, unkritisch Beifall zu klatschen bzw. unbestimmten Unmut zu äußern oder einfach wie eine bürgerliche beleidigte Mimose fernzubleiben, sondern es muß uns um inhaltlich qualitative Kritik zu tun sein. Es geht also um die Zentralität des Inhalts und damit um die Rückgewinnung revolutionärer Theorie für die revolutionäre Praxis. Das heißt auch, eine Praxis zu entfalten und zu unterstützen, die die theoretische Qualifikation und Selbstqualifikation aller Genossen und Genossinnen ermöglicht. Dies würden gut vor- und nachbereitete Inhaltskonferenzen ohne Bornierung, Ignoranz und Autoritätsfixiertheit fördern, ebenso wie sie einen Ort schaffen könnten, an dem die uns ermangelnde Debattenkultur wieder eingeübt und angeeignet werden könnte.
Die Katze ist also längst aus dem Sack. Es geht hier um den Versuch der aktuellen Beantwortung der Organisationsfrage. Wer sie stellt, ist mit den herkömmlichen Antworten wohl nicht zufrieden. Und es geht um die weitere praktische Zusammenarbeit. Es ist ein Plädoyer für die Konstituierung eines Offenen Kommunistischen Forums auf Bundesebene. Also auch, konsequenterweise, Aufbau regionaler Foren.
Der Weg, den wir vorschlagen, ist steinig. Nicht nur, daß uns Steine in den Weg gerollt werden, auch über die Last der Vergangenheit, die wir alle mitschleppen, werden wir noch das eine oder andere Mal ins Stolpern geraten. Doch wir sind uns gewiß: Alle derzeit bestehenden Parteiungen des Kommunismus haben sich in ihrer Theorie und Praxis beschränkt auf ein bestimmtes Segment des Kommunismus, auf ihr spezielles historisch gewachsenes Steckenpferd. Dem Anspruch, den die Kommunisten vor 150 Jahren im Manifest der Kommunistischen Partei an sich stellten, stets die Interessen des gesamten Proletariats hervorzuheben und zur Geltung zu bringen, vermag keiner der heute verbliebenen organisatorischen Scherben und Splitter allein gerecht zu werden. Das Ganze des Kommunismus wird erst wieder rekonstruiert werden können, wenn die verbliebenen Scherben sich gegenseitig bespiegeln, wenn wir endlich beginnen, uns aufeinander zu beziehen, voneinander zu lernen, und so unseren Horizont zu erweitern, wenn wir Kritik nicht als vernichtend auffassen, sondern als Aufforderung zur Überprüfung des eigenen Standpunktes, zur Selbstkritik.
* Dieser Text wurde verfaßt als Beitrag zur Zwischenauswertung der „Inhaltskonferenzen der Linken“ – einer Veranstaltungsreihe durchgeführt von der Zeitschrift offensiv (sozialistisches Monatsblatt der PDS Göttingen und Hannover) in Zusammenarbeit mit dem Offenen Kommunistischen Forum Hamburg, mit einzelnen Genossinnen und Genossen aus der DKP, der KPD, der Kommunistischen Plattform und dem Marxistischen Forum in der PDS, sowie mit weiteren Einzelpersonen an verschiedenen Orten, die eine inhaltliche Auseinandersetzung über die traditionellen Gartenzäune hinweg befördern sollte. Nach einem Jahr und fünf durchgeführten Konferenzen wurde im Juni 1998 von den Organisatoren eine selbstkritische Zwischenbilanz gezogen.
[1] offensiv Juni 1998.