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 übergänge Programmdebatte : October Song

October Song

Noch ein (vorläufiges) Resümee[*]

Kommunismus ... und kein Ende

Das Treffen, zu dem an diesem Wochenende unser kleines Häuflein der Übergänger mit einer oder zwei Handvoll weiterer Genossen zusammengekommen ist, die das vorgeschlagene Projekt einer programmatischen Neubegründung des Kommunismus als revolutionärer Bewegung mit uns diskutieren wollen, hat – wie schon den mit der Einladung versandten Papieren teilweise zu entnehmen war – einen etwas anderen Charakter als ursprünglich gedacht.

October Song. Noch ein (vorläufiges) Resümee (Okt. 1997)
11 Seiten, DIN A4
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Der Kreis der Teilnehmer ist deutlich enger gesteckt als vor Jahr und Tag ins Auge gefaßt und als es vor allem die Aufgabenstellung (Verständigung über den Beginn einer „Debatte um den Übergang zum Kommunismus und sein revolutionäres Programm“) an sich erforderte. Wir Übergänger meinen es nach wie vor ernst mit dieser Aufgabenstellung und sind so übergeschnappt nun auch wieder nicht zu glauben, sie in einem derart familiären Rahmen, wie ihn auch das jetzige Treffen noch darstellt, auch nur annähernd bewältigen zu können.

Der Neubeginn des Kommunismus ist nicht einfach ein neuer Beginn. Der Kommunismus hat nicht mehr nur die Kritik der bürgerlichen Emanzipationsversprechen und deren Praxis zur Voraussetzung, denn er besitzt längst bereits seine eigene, bekanntermaßen keineswegs nur mit Ruhm bekleckerte Geschichte. Seine Voraussetzung ist daher heute vor allem die Selbstkritik: das kritische Urteil über seine eigene wirkliche Geschichte. Jene Geschichte, die begonnen hatte mit der Forderung und dem Versprechen einer ganz neuartigen Revolution, der Revolution von einer Art, wie sie die Weltgeschichte noch niemals gesehen hatte; einer Revolution, die nicht mehr, wie alle bisherigen Revolutionen die unterdrückten Klassen von einer bestimmten Form ihrer Knechtung befreite, um sie einer neuen Form derselben zu unterwerfen, sondern um diese Knechtung selbst, die Ausbeutung und Unterdrückung überhaupt von Menschen durch andere Menschen ein für allemal zu beseitigen.

Die programmatische Debatte, die wir anstreben, hat die Bilanzierung dieser Geschichte des Kommunismus selbst als revolutionärer Bewegung zur Grundlage und das Ziel, ihre Konsequenzen zu formulieren. Sie wäre daher schon gescheitert, ehe sie begonnen hätte, wenn sie nicht von vornherein sich auf die Gesamtheit aller Gruppierungen, Strömungen und Individuen bezöge, die in irgendeiner, wie auch immer allermeist verkümmerten Form irgendein Stück, irgendeine gebrochene Kontinuität dieser Geschichte fortschleppen; wenn wir es nicht von allem Anfang an darauf anlegten, alle diese Gruppierungen, Strömungen und Individuen in die Debatte hinein zu ziehen bzw. zur Reaktion auf sie zu zwingen. Die jetzt aufgrund rein persönlicher Bekanntschaften zustande gekommene, also ganz zufällige Zusammensetzung dieses Treffens wird einer solchen Aufgabenstellung, völlig unabhängig von der Zahl der Teilnehmer, natürlich nicht entfernt gerecht.

Die Resonanz auf unseren Aufruf zur Debatte (in der Nummer vier der Übergänge sowie „online“ bzw. „world wide“ im trend) ist ziemlich schwach geblieben. Manche Genossen, die mit dem Einen oder Anderen von uns in lockerem persönlichen Kontakt stehen und die Übergänge mit wohlwollendem Interesse lesen, haben wenig Verständnis für unseren Vorstoß, und sogar im Kreis derjenigen, die vor jetzt knapp vier Jahren die Herausgabe der Übergänge in Angriff nahmen, wird ihm derzeit z.T. noch große Skepsis entgegengebracht. Einer der Skeptiker, Robert Schlosser, hat sich dann sogar ganz von den Übergängen verabschiedet. Die Diskussion auf dem letzten Übergänge-Treffen Anfang Juni schließlich, in deren Verlauf zeitweilig das ganze Vorhaben zu platzen drohte, hat uns gezeigt, daß selbst unter denen, die den Vorstoß unterstützen, keineswegs alle seine Implikationen schon durchdacht oder gar praktisch beherzigt wären; eine Erfahrung, die uns umgehend hat Abstand davon nehmen lassen, der schwachen Resonanz auf unseren Aufruf zum „ersten Verständigungstreffen“ etwa durch offensives Werben für eine Teilnahme daran noch auf die Beine zu helfen. Ein größerer Rahmen des Treffens hätte seine Initiatoren zum gegenwärtigen Zeitpunkt höchst wahrscheinlich überfordert und dann die ganze Sache womöglich vor ihrer Zeit gründlich verdorben.

Welcher Natur sind nun die Schwierigkeiten, mit denen unsere Initiative zur Sammlung kommunistischer Kräfte auf der Grundlage einer programmatischen Debatte zu kämpfen hat? Schon diese Frage führt sehr schnell in einen offenkundigen Widerspruch, der zunächst unauflösbar scheint. Einerseits repräsentieren weder die hier Versammelten, noch gar die Übergänge auch nur annähernd jenes Spektrum politischer und theoretischer Tendenzen, die der Sache nach die Adressaten unserer Initiative darstellen. Es kommen also vielfach nicht einmal die Fragestellungen vor, die die angestrebte programmatische Debatte zu bearbeiten hätte, wenn sie auch nur Aussicht haben soll, der längst bereitstehenden Falle seiner sektiererischen Verkapselung zu entgehen. Mancherorts sind die Übergänge vermutlich jetzt schon unter Titeln wie „Arbeitszeitsekte“ einsortiert und abgehakt. Andererseits dürfte es einigen Anwesenden (zu Recht) etwas seltsam vorgekommen sein, wenn unser Einladungsschreiben vor allem dem Eindruck eines allzu homogenen, „monolithischen“ Charakters der Übergänge zu wehren versucht, denn wer sich näher mit den Übergänge beschäftigt, dem kommt wahrscheinlich eher das gegenteilige Bedenken, daß nämlich die Übergänge überhaupt keine klar bestimmbare Richtung aufweisen und Gefahr laufen, in der Gegensätzlichkeit der Auffassungen, die darin zu Wort kommen, jede produktive Entwicklung derselben zu verspielen.

Das Spektrum der Wortmeldungen allein in der letzten Doppelausgabe der Übergänge reicht beispielsweise vom polemischen Antileninismus in der Tradition der Situationisten bis zu Hermann Kirschs wissenschaftlicher Systematisierung der realsozialistischen Hinterlassenschaften des Stalinismus. Wenn dennoch die Übergänge und ihre Träger hier und da den Eindruck eines Monolithen machen, hat das zunächst einmal den etwas profanen Grund, daß bereits das zunächst noch ganz unbestimmte „Miteinanderkönnen“ solcher an sich heillos zerstrittenen Brüder, wie sie unter dem Dach der Übergänge sich aneinander drängen, so ziemlich aus jedem Rahmen fällt. Bei der reichlichen Schelte, die uns die Veröffentlichung des Aufsatzes von Hermann Kirsch eingetragen hat, spielte die Tatsache, daß wir uns überhaupt coram publico mit seiner „politischen Ökonomie des Sozialismus“ beschäftigen, eine viel größere Rolle als das, was Ingwer Schwensen, Karl-Heinz Landwehr und ich jeweils dagegen setzen. Einer unsrer gestrengen Richter bekannte sogar freimütig, daß er „peinlich“ vor allem die „Ernsthaftigkeit“ gefunden habe, mit der wir uns auf Hermann Kirschs Darbietungen eingelassen hätten.

Wie sehr manches an solcher „Pein“ offenbar einer bemerkenswert nahen Verwandtschaft mit eben derselben verstaubten Dogmatik des Realsozialismus entspringt, gegen die sie gewendet wird, das erhellt besonders klar eine charakteristische Fehlinterpretation der Rede von der „expliziten kommunistischen Position“, für die nach Ingwers blasphemischem, mittlerweile wiederholt zitiertem Wort Hermann Kirschs Text stehe. Dieser Satz aus Ingwers erstem, noch in der „Sie“-Form abgefaßten Brief an Hermann Kirsch steht dort in einem bestimmten, sehr subjektiv eingefärbten Kontext. Wenn da besagter „Position“ zudem noch „Kraft und Lebendigkeit“ attestiert wurde, dann war das kontrastierend auf eine (den meisten der hier Anwesenden vermutlich keineswegs fremde) Rat- und Planlosigkeit jenes kritisch geschulten Linksradikalismus gemünzt, dessen „Vorgaben“, wie Ingwer schreibt, „oftmals nur in Vorbehalten sich auszudrücken vermögen“. Derzeit erwartet noch jeden Ansatz zu einer Reformulierung der revolutionären Ansprüche des Kommunismus in der schönen Alternative zwischen anspruchslos praktischer Betriebsamkeit, die immer noch in „Bewegung“ machen muß, oder hoffnungslos gescheitem Weltschmerz und uferloser Skepsis sein todsicheres Ende. Besagte „Kraft und Lebendigkeit“ unseres (von Ingwer treffend so genannten) „Erbes“ macht uns allen durchaus schwer zu schaffen. Das vor allem scheinen mir diejenigen zu übersehen, die den zitierten Satz als unangebrachte Lobhudelei bloß mißverstehen. Es ist die Lebendigkeit und die Kraft gleichsam eines Zombies: einer sozialen Bewegung, deren Zeit bereits abgelaufen ist, ohne daß sie schon zu ihrem Ende gekommen wäre: das, was Ingwer im Editorial der Nummer drei der Übergänge den „Widerspruch von gleichzeitiger Aktualität und Überlebtheit revolutionärer Theorie und Praxis“[1] nennt. Der mehr oder weniger reflektierten Artikulation dieses höchst eigenartigen Umstands verdankt sich sehr Vieles, was durch die bisherigen vier Ausgaben der Übergänge zirkuliert wurde.

 

Von der Wertkritik zur Kritik der politischen Ökonomie

Gegen allen vernünftig gewordenen Zeitgeist trotzig zu behaupten, daß „revolutionäre Theorie und Praxis“ nach wie vor (oder auch mehr denn je) ihre Aktualität besitzen, scheint der selbstverständliche Ausgangspunkt für jeden Versuch der Neuformierung kommunistischer Kräfte zu sein. Weniger auf Anhieb einleuchten dürfte dagegen, daß die Zurkenntnisnahme ihrer Überlebtheit ebenfalls dazugehört. Der auseinanderfallende Diskurs der marxistischen Linken bringt den zitierten „Widerspruch“ derzeit eher in der ganz äußerlichen Weise zum Ausdruck, daß die Behauptung seiner widerstreitenden zwei Seiten sich fein säuberlich auf zwei (scheinbar) gegensätzliche Lager verteilt. Daß es sich tatsächlich um einen neuen, historisch bestimmten, um den der konkreten heutigen „revolutionären Theorie und Praxis“ selbst innewohnenden „Widerspruch“ handelt und nicht bloß um die Wiederkehr des ewig jungen Gegensatzes von „Reform und Revolution“, von „Anpassung und Widerstand“ oder ähnlichem, das zeigt erst ein zweiter, die Sache näher ins Auge fassender Blick.

Das Projekt der Übergänge ist hervorgegangen aus einer mehrjährigen Auseinandersetzung im Rahmen der Krisis-Gruppe, die mit Ablauf des Jahres 1993 die Trennung der, polemisch von Robert Kurz so titulierten, „Marx-Menschen“ von der Krisis besiegelt hatte. Der Stellenwert der Auseinandersetzung mit der fundamentalen Wertkritik der Krisis war von Anfang an unter den Trägern des Projekts sehr umstritten. Dennoch steht fest, daß alle Beteiligten von ihr in der einen oder anderen Form bis heute entscheidend geprägt sind. Die ersten beiden Ausgaben der Übergänge, die den Selbstverständigungsprozeß der ersten zwei Jahre im Rahmen des Projekts widerspiegeln, weisen die kritische Beschäftigung mit dem Fundament der Nürnberger Wertkritik deutlich als ihren Schwerpunkt aus. Die jetzt nach zweijähriger Veröffentlichungspause formulierte Aufgabe einer programmatischen Debatte unter den Kommunisten hat dagegen mit der Kritik der Krisis höchstens noch am Rande zu tun. Dessenungeachtet ist der Umstand, daß wir zu der Aufgabenstellung gerade über diese bestimmte Kritik gelangt sind, weil nun einmal alle Übergänger mehr oder weniger unmittelbar aus dem Krisis-Zusammenhang kommen, weit weniger zufällig, als es zunächst den Anschein haben mag.

So unglaublich es heute anmutet, wenn man sich anschaut, mit welchem Schund aus Antikommunismus und liegengebliebener Reformhausware die Krisis mittlerweile hausieren geht: Die IMK (Initiative Marxistische Kritik – wie der Kreis um die Nürnberger Wertkritiker sich seinerzeit nannte) stand an ihrem Beginn vor allem für die Behauptung einer Wiedergeburt revolutionärer Theorie und Praxis. Im Editorial der Nummer eins der Marxistischen Kritik (MK) vom März 1986 heißt es:

„Der revolutionäre Marxismus ist nach einer sektenhaften Scheinblüte von wenigen Jahren heute in der Linken selbst kaum weniger verpönt und tabuisiert als im restaurativen Klima der Adenauerkultur in den fünfziger Jahren. Die antitheoretische und antimarxistische ,Wende‘ der (Ex-)Linken ging der neo-konservativen ,Wende‘ im größeren gesellschaftlichen Maßstab noch voraus, und ironischerweise ist die eine wie die andere ,Wende‘ offenbar als Reaktion auf die real existierende Krise des Kapitalismus zu verstehen.“[2]

Die IMK ergriff (zu Zeiten, als manche Koryphäe des heutigen Linksradikalismus noch an prominenter Stelle in der Grünen Partei mitmischte) gegen „die antitheoretische und antimarxistische ‚Wende‘ der (Ex-)Linken“ unzweideutig Partei für den damals tatsächlich noch so genannten „revolutionären Marxismus“:

„Die reaktionären Plattitüden des gesunden Menschenverstandes der Grün-Alternativen, für die man sich vielleicht 1969 noch zu Tode geschämt hätte, werden heute ernsthaft von ehemaligen Theorie-Häuptlingen erörtert, die anfangen sich in vitalistischen Posen zu gefallen. Daß in der fluchtartigen Absetzbewegung der akademischen Ex-Linken heute die Rezeption von Max Weber schon fast eine „linke“ Rückzugsstellung bildet, wirft mehr als bloß ein Schlaglicht auf ihre Geistesverfassung.“

Bekenntnisse zum „revolutionären Marxismus“ waren sicher auch anderswo zu haben. Daß darunter die „Fundamentalkritik der Warenproduktion und der Lohnarbeit“ (ebd.) verstanden wurde, war hingegen selbst solchem Bekennertum längst nicht mehr selbstverständlich. Das allein entschied jedoch nicht die Differenz der IMK zu allen anderen Richtungen eines „revolutionären Marxismus“; auch nicht, daß die IMK sich zugleich abgrenzte von jenen bis heute überwinternden (wir sagen: traditionskommunistischen) Gruppierungen, die sich damit abmühten und abmühen, das eine oder andere für besonders wertvoll gehaltene Exemplar besagter „sektenhafter Scheinblüte“ aus den siebziger Jahren liebevoll zu konservieren. Entscheidend war vielmehr, daß die IMK ihre Parteinahme für den „Gedanken der authentischen Marx’schen Theorie“ (ebd.) mit der Behauptung eines epochalen Bruchs verband, der das Ende der klassischen Arbeiterbewegung und des von ihr transportierten traditionellen Marxismus’ besiegelt habe.[3] Weil erst jetzt die endgültige, globale Krise des Kapitalismus heraufdämmere, so wurde argumentiert, weil daher die bisherige Arbeiterbewegung, wie ihre marxistischen Theoretiker, es noch gar nicht mit den ausgereiften objektiven Bedingungen der revolutionären Überwindung des Kapitalismus zu tun gehabt hätten, deshalb hätten sie kaum den adäquaten Begriff dieser Umwälzung entwickeln können.

Die „alte Arbeiterbewegung“, schreibt Robert Kurz in „Die Krise des Tauschwerts“,[4] habe „ihren historischen Kulminationspunkt und ihre Chance am Ende des ersten Weltkriegs“ gehabt, der zwar auch die „Objektivität des Kapitals und seiner Entwicklung“ zugrunde gelegen habe, „aber in einem allgemeineren Sinne als heute“:

„Die Logik des Kapitals war noch nicht an ihm selber ausgebrannt, sondern konnte nur durch eine von hohem Bewußtsein über diese Logik getragene gesellschaftliche Aktion gestoppt und überwunden werden. Die Möglichkeit dazu hat durchaus bestanden, aber die westliche Arbeiterbewegung, die allein für diesen Akt in Frage gekommen wäre, hat diese Höhe des Bewußtseins nicht aufgebracht. Aber die Geschichte ist deswegen nicht stehengeblieben. Auch die nicht begriffene Logik bleibt objektiv, wirklich und wird erfahrbar und schließlich erlitten, bis sich Bewußtsein und Wille zur Objektivität hinbequemen, weil es anders nicht mehr geht. In dem Maße, wie heute die kapitalistische Logik an sich selber ausbrennt und zugrunde geht, beginnt dieser Zwang auch in Erscheinung zu treten. Da der Prophet nicht zum Berg gekommen ist, setzt sich der Berg in Bewegung und kommt fürchterlich zum Propheten, dem auch kein davonlaufen helfen wird.“

Wie man sieht, ist hier die Ambivalenz dieser Argumentation noch keineswegs in jene aalglatte sogenannte „Logik“ einer sogenannten „Durchsetzungsgeschichte“ des Kapitalismus eingeebnet, nach der alles einfach habe kommen müssen, wie es nun einmal gekommen ist. Der politische Opportunismus der (NB:) westlichen Arbeiterbewegung fällt noch nicht umstandslos zusammen mit einer angeblich unabdingbar „objektiv“ ihr zugefallenen Rolle als kapitalistischer Modernisierer. Das Proletariat als der Produzent und zugleich das negative Produkt des Kapitals ist diesem noch nicht ebenso „logisch“ wie begrifflos als sein „variabler Bestandteil“ bloß subsumiert. Solche späteren Entwicklungen der fundamental wertkritischen Argumentation sind hier zwar als (aus der Rückschau deutlich erkennbar) mögliche, aber keineswegs notwendige Folgerung nur erst in ihr angelegt. Es hat daher auch ganz praktisch noch eine geraume Zeit gedauert und eine Reihe innerer Kämpfe gekostet, bis die fundamentale Wertkritik unter dem Namen „Krisis“ einer größeren Öffentlichkeit sich als jenes Lichtlein präsentieren konnte, das eine bestimmte Spezies theoretisch relativ anspruchsloser, um so mehr aber auf multimediale Präsenz versessener kulturkritischer Motten als ihre funzelige Zentralsonne umschwirren darf. Vorerst waren es vor allem die später geschmähten „Marx-Men­schen“ (Robert Kurz), die auf die Nürnberger Wertkritik flogen, weil sich ihnen da eine Möglichkeit bot, wie sie damals in der linksradikalen Landschaft einzig dastand, sich des Universums revolutionärer Theorie im Wege ihrer Ausleuchtung von ihrer eigenen Grundlage, der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, her neu zu versichern.

Eine solche Möglichkeit war (und ist) nicht mehr zu haben, ohne daß dieses Universum zugleich als solches in Frage gestellt wird. Revolutionäre Theorie, deren Prüfstein ja nur die revolutionäre Praxis sein kann, sieht sich auf sich selbst verwiesen in Zeiten, da das Revolutionäre des praktizierten Linksradikalismus – gezwungenermaßen – wesentlich aufs Bekenntnis radikal oppositioneller Gesinnung reduziert ist; in Zeiten, da praktisch der „Widerstand“ gegen die Welt, wie sie ist und sich entwickelt, die rücksichtslose Entwicklung ihrer Widersprüche bis zum Clash verdrängt hat. Revolutionäre Theorie muß in solchen Zeiten sich vor allem gegen sich selber revolutionär verhalten, d.h. im Ganzen sich selbst überprüfen und erneuern. In zweifacher Hinsicht: Wenn die Revolution als höchstens noch eine theoretische Möglichkeit der Verhältnisse den Revolutionären sich darstellt, dann haben diese ihren Begriff sowohl von den Verhältnissen als auch von deren Revolution von Grund auf neu zu durchdenken, und zwar ohne jede Rücksicht auf irgendeine – und sei’s die revolutionäre – Gesinnung. (Die Krisis – das war zuletzt von ihr zu lernen – hat im Zweifel schließlich doch ihrer vermeintlich revolutionären Gesinnung die revolutionäre Theorie geopfert.)

Den Gedanken, daß die Geschichte der Revolution vor allem die Geschichte des Versäumnisses ihrer Möglichkeit ist, hatte die IMK bekanntlich nicht erfunden. Seine gewissermaßen klassische Formulierung gehört der Schule der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos. Auch darin, das Versäumnis selbst und seine näheren Umstände konkret nicht ins Auge zu fassen, folgte die fundamentale Wertkritik von Anfang an brav dem klassischen Vorbild. Aber für die Kritische Theorie ist die Behauptung der ungenutzt verstrichenen Möglichkeit der Revolution konstituierend und schließt die Unwiederbringlichkeit jener historischen Stunde der Revolution unabdingbar mit ein. Revolutionäre Theorie – ihrer praktischen Wirklichkeit beraubt – kann danach nicht mehr sein, was sie vorher war. Die IMK griff dagegen den Gedanken auf, um ihn vor allem endgültig zu den Akten zu legen. Die revolutionäre Theorie des Karl Marx sei von der verpaßten Revolution nicht nur nicht berührt, sondern finde vielmehr heute erst ihre adäquate Wirklichkeit, argumentierte man. Daß sich die fundamentale Wertkritik mit solchem Eklektizismus von vornherein auf jener schiefen Ebene befand, an deren unterem Ende die Gesamtentsorgung aller sowohl kritischen als auch revolutionären Theorie auf sie wartete, ist aus der Rückschau, der dieses Ende bereits bekannt ist, sicher leicht zu diagnostizieren. Das bloß zu denunzieren, ist inzwischen allerdings billig und läuft Gefahr, das Moment an Wahrheit und Berechtigung zu übersehen, das die seinerzeitige Verfahrensweise trotz allem auch enthielt.

Die Kritische Theorie hatte darin recht, den Niedergang der Arbeiterbewegung in Europa, der mit der in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg verspielten Revolution eingeläutet und mit dem Sieg des Nationalsozialismus besiegelt worden war, als „point of no return“ aller revolutionären Theorie und Praxis festzuhalten. Auch haben ihre heutigen linksradikalen (hauptsächlich auf den Bahamas beheimateten) Adepten mit ihrer standhaften Weigerung, das Dilemma aufzulösen, in das kritische Theorie seither geraten ist – daß nämlich als kritische Theorie, als Infragestellung der Verhältnisse, wie sie sind (bzw. zu sein scheinen)[5], sie selbst damit fragwürdig wird –, sich gegen den Druck der Anpassung an politische und zeitgeistliche Konjunkturen, anders als etwa die Wertkritiker der Krisis, ziemlich resistent gezeigt. Aber diese Verweigerung seiner Lösung bleibt selbst nur eine kritische, sofern sie das Dilemma zugleich thematisiert und nicht etwa blind einfach leugnet. Und es kann nicht thematisiert werden ohne den Versuch seiner Lösung. Die linksradikale Kritische Theorie bleibt so gebunden an das Scheitern solcher Lösungsversuche. Sie lebt vom Nachweis dieses Scheiterns, ist daher interessierte Kritik und wesentlich konservativ. Ihre „zentralen Einsichten“, von denen Ingwer im Editorial der Nummer drei der Übergänge schreibt, sie müßten den „Debatten über revolutionären Marxismus (wieder)“ eingeschrieben werden, bedürfen vor allem selbst rücksichtsloser Kritik. Wenn die fundamentale Wertkritik diese verfehlte, kann das nur heißen, daß sie in ihrem Ausbruchsversuch aus dem Teufelskreis solcher kritischen Theorie unkritischer Verhältnisse allzu viele jener „Einsichten“ unbesehen fortgeschleppt hat.

 

Warenlogik und Klassenkampf

Als die „zentrale Einsicht“, die linksradikale Kritische Theorie und die fundamentale Wertkritik aus Nürnberg erklärtermaßen teilen, figuriert die sogenannte „Wertkritik“ selbst.[6] Wesentliche Argumente dieser Wertkritik finden sich auch in etlichen Beiträgen der Übergänge. Wir haben darin mit keinem bloß zufällig äußerlichen Anhaltspunkt zu tun, sondern mit einem weit in die Theoriegeschichte des Marxismus zurückreichenden Problem. Es findet sich bereits in Georg Lukács’ Aufsatz über „Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats“, der erstmals 1923 (in der berühmten Aufsatzsammlung „Geschichte und Klassenbewußtsein“) erschienen ist und, wie Zwi Schritkopcher schreibt,[7] „als die Gründungsakte des ‚Westlichen Marxismus‘ gilt“, darunter auch der Kritischen Theorie. Zu seiner Erläuterung sei hier ein längeres Stück vom Anfang dieses Aufsatzes zitiert. Das Zitat beginnt seinerseits mit einem (mittlerweile ziemlich bekannten) Zitat aus jenem vierten Unterabschnitt des ersten Kapitels des „Kapital“, Band eins, das vom „Fetischcharakter der Ware und sein[em] Geheimnis“ handelt:

„Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge ... Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.“[8]

Soweit das Zitat aus dem „Kapital“, zu dem Lukács nun ausführt:

„An dieser struktiven Grundtatsache ist vor allem festzuhalten, daß durch sie dem Menschen seine eigene Tätigkeit, seine eigene Arbeit als etwas Objektives, von ihm Unabhängiges, ihn durch menschenfremde Eigengesetzlichkeit Beherrschendes gegenübergestellt wird. U.z. geschieht dies sowohl in objektiver wie subjektiver Hinsicht. Objektiv, indem eine Welt von fertigen Dingen und Dingbeziehungen entsteht (die Welt der Waren und ihre Bewegung auf dem Markte), deren Gesetze zwar allmählich von den Menschen erkannt werden, die aber auch in diesem Falle ihnen als unbezwingbare, sich von selbst auswirkende Mächte gegenüberstehen. Ihre Erkenntnis kann also zwar vom Individuum zu seinem Vorteil ausgenützt werden, ohne daß es ihm auch dann gegeben wäre, durch seine Tätigkeit eine verändernde Einwirkung auf den realen Ablauf selbst auszuüben. Subjektiv, indem – bei vollendeter Warenwirtschaft – die Tätigkeit des Menschen sich ihm selbst gegenüber objektiviert, zur Ware wird, die der menschenfremden Objektivität von gesellschaftlichen Naturgesetzen unterworfen, ebenso unabhängig vom Menschen ihre Bewegung vollziehen muß, wie irgendein zum Warending gewordenes Gut der Bedürfnisbefriedigung. ,Was also die kapitalistische Epoche charakterisiert‘, sagt Marx, ,ist, daß die Arbeitskraft für den Arbeiter selbst die Form einer ihm gehörigen Ware ... erhält. Andererseits verallgemeinert sich erst in diesem Augenblick die Warenform der Arbeitsprodukte.‘“[9]

Lukács begeht hier den zunächst ganz unscheinbaren Fehler, den Unterschied, ja diametralen Gegensatz, zwischen dem Zur-Ware-Werden einerseits der Arbeitskraft und andererseits der „Tätigkeit des Menschen“ zu übersehen. Auf diesem Unterschied beruht die Marxsche Theorie des Mehrwerts und damit der ganze Begriff des Kapitals als eines bestimmten Klassenverhältnisses. Ich habe das im Editorial zur Nummer vier der Übergänge schon einmal angerissen.[10] In Lukács’ selbstkritischen Bemerkungen im Vorwort zur Neuherausgabe der Aufsätze im Jahre 1967 findet dieser Punkt keine Erwähnung, und auch eine weitere, damit zusammenhängende Unrichtigkeit wird allenfalls höchst indirekt und ungenau kritisch korrigiert: „nur am Rande bemerkt“ Lukács, daß „das Phänomen der Verdinglichung“ irrtümlich „synonym“ mit Vergegenständlichung „gebraucht wurde“.[11] Es handelt sich aber bei dieser falschen Identifizierung um den „Springpunkt …, um den sich“, wie Marx sagt, „das Verständnis der politischen Ökonomie dreht“[12]: seine Unterscheidung von konkreter und abstrakter Arbeit. Nicht überhaupt „seine eigene Tätigkeit“ tritt in den Warenbeziehungen „dem Menschen ... als etwas ... von ihm Unabhängiges, ihn durch menschenfremde Eigengesetzlichkeit Beherrschendes“ gegenüber, sondern, wie es bei Marx an der von Lukács zitierten Stelle heißt, ihr gesellschaftlicher Charakter, d.h. ihr Charakter als individuelle Verausgabung einer bestimmten Menge der gesamten gesellschaftlichen Arbeitskraft. Die konkrete, den besonderen Gebrauchswert der Ware produzierende Arbeit dagegen tritt dem Produzenten in der Warengestalt zwar auch „als etwas Objektives“ entgegen, aber durchaus nicht „als etwas ... von ihm Unabhängiges, ihn durch menschenfremde Eigengesetzlichkeit Beherrschendes“, vielmehr beweist die fertige Gebrauchswertgestalt der Ware sinnfällig, daß ihr Produzent die „Eigengesetzlichkeit“ des Objekts in seiner konkreten Arbeit erfolgreich gemeistert hat.

Zwei entscheidende Eigentümlichkeiten des heutigen wertkritischen Diskurses finden sich bereits in diesem vor über 70 Jahren verfaßten Text, der Generationen kritischer, sogenannter westlicher Marxisten inspiriert hat. Zum einen geht die, um mit Zwi Schritkopcher zu sprechen, Wiederaufdeckung der Warenform als der „Universalform der modernen kapitalistischen Totalität“ von vornherein einher mit einer Verunklarung der von Marx geleisteten Analyse dieser Form. Ihr Fetischcharakter, den Marx vor allem zu erklären, zu entschlüsseln sucht, wird seinerseits als Schlüssel benutzt, der jene Totalität, d.h. den Kapitalismus, zu erklären hat, und das Geheimnis seiner Genesis und dessen Enträtselung gerät dabei aus dem Sinn. Zum zweiten mißversteht Lukács hier – und mit ihm die heutige Wertkritik – den Status jener Universalform und ihrer kritischen Darstellung im Kontext der Kritik der politischen Ökonomie.

Bekanntlich ist ein Hauptanliegen der Wertkritik (ob fundamental oder in der Tradition der Kritischen Theorie), den spezifischen Klassencharakter „der modernen kapitalistischen Totalität“ und damit das Proletariat als revolutionäres Subjekt theoretisch loszuwerden. Eine Intention, die im fundamentalen Gegensatz zu derjenigen steht, die Lukács seinerzeit verfolgte. Ihm ging es gerade umgekehrt darum, der Behauptung des Proletariats als einzig revolutionärer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft eine solide philosophische Grundlage zu geben. Die wertkritische Erledigung der Klassenfrage beruft sich auf den Warencharakter der Arbeitskraft, der die Voraussetzung des Kapitalverhältnisses bildet. Damit sei der Arbeiter (oder die Arbeiterin) prinzipiell „ein genauso abstraktes Geld-Subjekt wie der Kapitalist“, wie es in einer der neun berüchtigten „Thesen zur Entmythologisierung des Marxismus“ hieß, mit denen Robert Kurz und Ernst Lohoff den sogenannten „Klassenkampffetisch“ 1989 bravourös erlegten.[13] Lukács hatte den Akzent darauf gelegt, am „Schicksal“ des seine Arbeitskraft verkaufenden Arbeiters sei

„ ... für den Aufbau der ganzen Gesellschaft typisch, daß diese Selbstobjektivierung, dieses Zur-Ware-Werden einer Funktion des Menschen, den entmenschten und entmenschlichenden Charakter der Warenbeziehung in größter Prägnanz offenbaren.“[14]

Die postmodernen (hard-core) Wertkritiker drehen das Argument kurzerhand um. Wenn das „Schicksal“ des Arbeiters „typisch“ für die sogenannte „Warengesellschaft“ sei, dann folge daraus, daß es ein „bloß immanentes“, rein „warenförmiges“, jedenfalls kein revolutionäres Interesse und Bewußtsein konstituiere. Lukács und die Wertkritiker täuschen sich nun aber gemeinsam in der Annahme, das Zur-Ware-Werden der Arbeitskraft treibe den Charakter der Produktion als Produktion von Waren nur einfach auf die Spitze. Die Ware Arbeitskraft und ihr spezifischer Austausch mit dem Kapital bildet vielmehr den kritischen Punkt, an dem

„das auf Warenproduktion und Warenzirkulation beruhende Gesetz der Aneignung oder Gesetz des Privateigentums durch seine eigene, innere, unvermeidliche Dialektik in sein direktes Gegenteil [umschlägt]. ... Das Verhältnis des Austausches zwischen Kapitalist und Arbeiter [als Austausch von Äquivalenten; Anm. DD] wird ... ein dem Zirkulationsprozeß angehöriger Schein, bloße Form, die dem Inhalt selbst fremd ist und ihn mystifiziert.“[15]

Mit dem Austausch von Lohnarbeit und Kapital wird die Wertsubstanz, die abstrakte Arbeit, die beim bloßen Austausch von Ware gegen Ware bzw. Ware und Geld nur vermittelnde Form eines davon verschiedenen Inhalts, nämlich des Austausches konkreter, in verschiedenen Gebrauchswerten vergegenständlichter Arbeit, darstellt, zum Inhalt des Austausches. Denn der Witz der Ware Arbeitskraft besteht ja gerade darin, daß diese besondere Ware auf dem Markt nur erscheint, weil ihr Besitzer aller Voraussetzungen beraubt ist, seine Arbeitskraft in konkreter Arbeit auf eigene Rechnung zu verwirklichen und diese bzw. deren Produkt in den Austausch zu bringen. Er kann also dem Kapitalisten nach den Gesetzen des Warenaustausches nur seine Kraft, sein Vermögen zu wirklicher Arbeit, die in seiner Leiblichkeit, seiner Physiologie als arbeitsfähiger Durchschnittsmensch eingeschlossen ist, anbieten und in Rechnung stellen. Was dann der Käufer, der Kapitalist mit dieser Kraft, dem Arbeitsvermögen anfängt, ginge den Arbeiter eigentlich nichts mehr an – soweit man die Sache als bloßen Warenaustausch ansieht.

Es findet hier allerdings „eine Antinomie statt“, wie Marx bei der Untersuchung der Grenzen des Arbeitstags festhält.[16] Da der Arbeiter weder seine Arbeit noch sich selbst, sondern nur sein Vermögen zur Arbeit verkauft, da er weiter nach den Gesetzen des Warenaustausches für diesen Verkauf im Gegenzug so zu entschädigen ist, daß er die verkaufte Ware reproduzieren, also sie regelmäßig wieder zum Verkauf anbieten kann, muß er sie vermieten, d.h. ihren Gebrauch dem Kapitalisten nur auf begrenzte Zeit überlassen (und ihm auferlegen sie in dieser Zeit nicht zu ruinieren). Aus der „Natur des Warenaustausches selbst“, ergibt sich daher weder eine bestimmte Schranke des Arbeitstages, noch etwa, daß der Kapitalist diese nach Lust und Laune festlegen könne. Es steht vielmehr „Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt“, woraus zu ersehen ist, wie weit die sogenannte „Warenlogik“ unserer verehrten Wertkritiker führt, die daraus die Klassen und ihren Kampf miteinander „ableiten“ wollen. „Zwischen gleichen Rechten“, fährt Marx fort, „entscheidet“ – nein nicht irgendeine „Logik“, sondern „die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstages als Kampf um die Schranken des Arbeitstages dar – ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Kapitalistenklasse, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.“ Nicht die Warenlogik konstituiert hier offenbar den Klassenkampf, sondern der Klassenkampf erst konstituiert so etwas wie eine „Logik“ oder allgemeine Regel, nach der der Austausch zwischen Lohnarbeit und Kapital sich vollziehen kann.

 

„Fetisch“: sachliche oder versachlichte Gewalt?

Nun ist anderseits richtig, daß die Warenform der Arbeitsprodukte erst von dem Augenblick an sich verallgemeinert, da die Arbeitskraft für den Arbeiter Warenform annimmt.[17] Und mit ihrer Warenform verallgemeinert sich der Fetischcharakter der Arbeitsprodukte, d.h. der bestimmte gesellschaftliche Zusammenhang der Arbeiten der Individuen und dessen Entwicklung nimmt allgemein die Form eines bloß sachlichen Zusammenhangs der Produkte ihrer Arbeit und deren eigenmächtiger Bewegung an. Die Wertkritik hat daraus gefolgert, nicht die spezifische Klassenteilung und der Kampf dieser Klassen untereinander mache den Charakter dieser Gesellschaft wesentlich aus, sondern etwas, das in ihrer Diktion gewöhnlich der „Warenfetisch“ oder auch nur einfach „Fetisch“ heißt. Daß die Individuen (Kapitalisten und Arbeiter gleichermaßen) von einer abstrakten Logik, von sogenannten „Sachzwängen“ gegängelt werden, mache den wirklichen Skandal dieser Gesellschaftsformation aus. Auch in den Übergängen wird gelegentlich ähnlich argumentiert. So spricht zum Beispiel Karl-Heinz Landwehr an einer Stelle im Briefwechsel mit Hermann Kirsch von den „Fetischformen“ als nur der „Metapher für die sachliche Gewalt …, die die Menschen beherrscht in Gesellschaften verallgemeinerter Warenproduktion.“[18]

Tatsächlich ist es – mehr als in allen früheren Klassengesellschaften – in der bürgerlichen, der kapitalistischen Gesellschaft, nicht die Gewalt bestimmter Individuen, die von bestimmten anderen Individuen erlitten wird, sondern buchstäblich die Gewalt einer Klasse, vollzogen unabhängig vom Wollen und Handeln ihrer einzelnen Mitglieder (selbst die Zugehörigkeit zu ihr ist völlig unabhängig von irgendeiner Absicht und irgendeinem Wissen darum) an der ihr entgegengesetzten Klasse.

Ein einzelner Produktionszweig, kapitalistisch organisiert in einer Umwelt kleiner Warenproduzenten, muß unter permanenter Knappheit von Lohnarbeitern leiden, die der Aneignung von Mehrarbeit enge Grenzen setzt (wie in Amerika noch bis in die Zeit des Bürgerkriegs z.T. der Fall). Erst die Verwandlung aller oder wenigstens aller wichtigeren Produktionszweige in kapitalistisch betriebene Industrie, die aber auch erst die Bildung der Klasse der Kapitalisten bedeutet (und der natürlich die massenhafte Beseitigung der kleinen Warenproduktion, also die Verwandlung der Masse der kleinen Warenproduzenten in eigentumslose Lohnarbeiter entspricht) versetzt jeden einzelnen Kapitalisten in die Lage, sein privates Eigentum an einer bestimmten Masse der gesellschaftlichen Produktionsmittel wirklich als Machtmittel gegen die ihm gegenüberstehenden Arbeitskräfte einzusetzen. Marx spricht daher zu Recht des öfteren vom Monopol der Kapitalisten an den Produktionsmitteln (und nicht etwa vom „Oligopol“); Es ist buchstäblich das gemeinsame Klasseneigentum der Kapitalisten, das Marx denn auch im dritten Band des „Kapitals“ im Detail (ausgehend von der Bildung der Durchschnittsprofitrate vor allem in der Entwicklung von Kredit und Aktienkapital) nachweist als sich aufteilend und vermehrend nach Kriterien, die die Klasse der Kapitalisten, Besonderheiten und selbst individuelle Unterschiede der Tendenz nach nivellierend, als ganze umgreifen.

Abstrahiert man also vom Klassenverhältnis und betrachtet das Verhältnis zwischen einem beliebigen einzelnen Kapitalisten und seinen Arbeitern, dann stellt es sich in der Tat als ein von jeder persönlichen Gewalt freies Verhältnis dar – ein reines Vertragsverhältnis, nach allen Regeln des bürgerlichen Rechts der Freien und Gleichen geschlossen und wieder auflösbar. Die Gewalt hat sich ganz vom Individuum der Klasse gelöst und ist vollständig auf deren Gesamtheit als Klasse übergegangen. Die Gewalt dieses Klassenverhältnisses, da von jedem individuellen Verhältnis unabhängig, erscheint diesem gegenüber jeweils äußerlich, als sogenannter Sachzwang. Aber die „Sache“, die hier zwingt, ist die das Eigentum an den Produktions- und Lebensmitteln monopolisierende Klasse der Kapitalisten, einen anderen, einen wirklich sachlichen Grund, einen Grund, der über die bestimmte Form der gesellschaftlichen Verhältnisse hinausreicht, ihnen seinerseits bestimmte Schranken setzt, gibt es nicht mehr. Das Kapital ist gerade diejenige gesellschaftliche Form, die alle solche bloß sachlichen Schranken sprengt, wogegen alle früheren, in der einen oder anderen Weise unmittelbar persönlichen Gewaltverhältnisse von Sklavenhalter und Sklaven, von Herr und Knecht durch eben diese sachliche Gewalt der noch mehr oder weniger naturwüchsigen Produktionsbedingungen beherrscht wurden, so daß dort in der Tat der wirkliche Sachzwang unter seiner persönlichen Form verborgen, „versteckt ist durch die Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse, die als unmittelbare Triebfedern des Produktionsprozesses erscheinen und sichtbar sind“.[19]

 

Last not least

Es wäre jetzt noch zu erörtern (was schriftlich auszuformulieren die Zeit nicht mehr erlaubt)

  • daß Inhalt und Form der kapitalistischen Klassenteilung spezifisch und so nicht beliebig sind;
  • daß – dem Inhalt nach – nicht mehr das Gebundensein der Individuen an bestimmte besondere Formen zweckmäßiger Tätigkeit (z.B. Ritter-, Priester-, Bauernschaft und Handwerk) die Gesellschaft teilt, sondern die Arbeit in ihrer Allgemeinheit als zweckbestimmtes Tun überhaupt, ohne Rücksicht auf den bestimmten Zweck, zum Kriterium der Klassenteilung wird und die Gesellschaft teilt in solche die (in irgendeiner Form) arbeiten müssen, und solche, die das nicht müssen, weil sie sich das Produkt fremder Arbeit aneignen;
  • daß die Form dieses spezifischen Klasseninhalts – des Kommandos über fremde Arbeit, aber nicht Arbeit in einer bestimmten, besonderen zweckmäßigen Form, sondern fremde Arbeit sans phrase – das Privateigentum ist, weil allein das Privateigentum, das dem Arbeitsprodukt die Form der Ware verleiht, die Arbeit auf der Grundlage ihrer Allgemeinheit und nicht ihrer Besonderheit gesellschaftlich synthetisiert; Privateigentum jedoch, das auf Aneignung fremder, statt eigener Arbeit beruht, daher kapitalistisches Privateigentum;
  • daß diese spezifische Klassenteilung, indem sie die „Auflösung“ aller ihrer früheren Formen „in eine allgemeine Form ... das Herausarbeiten des allgemeinen Grundes[20] der persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse“ darstellt, zugleich die letzte Form der Klassenteilung der Gesellschaft überhaupt ist; ihre „geschichtliche Tendenz“ daher „nach ihren eigenen immanenten Gesetzen“ die Aufhebung nicht nur des auf eigener Arbeit beruhenden Privateigentums, sondern des Privateigentums überhaupt ist („Expropriation der Expropriateurs“) [21];
  • daß also das kapitalistische Klassenverhältnis, wie Marx sagt, „notwendig zur Diktatur des Proletariats führt“ als Durchgangspunkt „zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft“.[22]
  • daß die Geschichte eine solche Notwendigkeit schlecht „stornieren“ kann, weil etwa irgendein sogenannter „subjektiver Faktor“ sie noch nicht begriffen hätte, sie sich in der wirklichen Geschichte seit Marx geltend gemacht haben muß (eine Annahme, die nichts mit geschichtlichem Pessimismus oder gar Optimismus zu tun hat, sondern nur mit gedanklicher Folgerichtigkeit, d.h. intellektueller Redlichkeit).
  • daß daher schließlich die Aufgabe der Formulierung einer neuen kommunistischen Programmatik auf der Höhe unserer Zeit in erster Linie nicht irgendwelche Zukunftsentwürfe zu liefern, sondern gewissenhaft zu bilanzieren hat, welche konkrete Form jene notwendige Aufhebung dieses letzten, kapitalistischen, Klassenverhältnisses in diesem gerade ausgehenden Jahrhundert angenommen hat (worin dann solche Streitfragen, wie die des Staatssozialismus oder Staatskapitalismus etc. einzuordnen wären).

DD im Oktober 1997



[*] Dieser Text ist die schriftliche Fassung des Eingangsreferats beim ersten Treffen, zu dem mit Erscheinen der Nummern drei und vier des Zirkulars Übergänge zum Kommunismus im Frühjahr 1997 dessen Herausgeber für den Herbst desselben Jahres eingeladen hatten, um die „Debatte um den Übergang zum Kommunismus und sein revolutionäres Programm“ zu beginnen.

[1] a.a.O. S. 10.

[2] a.a.O. S. 1.

[3] Dies wohlgemerkt deutlich vor dem offiziellen Termin jenes Bruchs, der sogenannten „Wende“ im Herbst 1989.

[4] Robert Kurz: Die Krise des Tauschwerts. Produktivkraft Wissenschaft, produktive Arbeit und kapitalistische Reproduktion. In: MK 1 (März 1986), S. 47.

[5] Bekanntlich lautet ein zentrales Argument der Kritischen Theorie, daß der Schein der Dinge, des Kapitals, deren Begriff zu entsprechen begonnen habe und das gerade das Unglück sei.

[6] Vgl. dazu mein Editorial der übergänge Nummer vier, S. 3ff.

[7] Die Situationisten (1958-1972). Auftakt zum westlichen Communismus. In: Übergänge Nummer drei, S. 99. Im selben Sinne auch Übergänge Nummer vier, S. 103.

[8] MEW23, S. 86.

[9] Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Neuwied, 1968, S. 260f.

[10] „Ihre ,Tätigkeiten zur Ware‘ machen heute allenfalls noch der kleine Bäcker, der seine Brötchen auf eigene Rechnung selber backt und verkauft, oder der Friseur, der seinen Kunden persönlich die Haare schneidet. Daß der Arbeiter, dem es gerade an jedem Mittel produktiver Betätigung fehlt, dem Monopolisten dieser Mittel, dem Kapitalisten, seine ,Tätigkeit‘ verkaufe, ist dagegen pure Ideologie, also das von den Verhältnissen verallgemeinerter Warenproduktion notwendig produzierte Blendwerk …“

[11] Lukács, a.a.O. S. 27.

[12] MEW23, S. 56.

[13] Hier zitiert nach: Übergänge Nummer eins, S. 28, Fn. 64.

[14] Lukács, a.a.O. S. 267.

[15] MEW 23, S. 609.

[16] Dito S. 249.

[17] Vgl. MEW 23, S. 184, Fn. 41.

[18] Übergänge Nummer drei, S. 61.

[19] Vgl. MEW 25, S. 839.

[20] MEW42, S. 97.

[21] Vgl. MEW 23, S. 789ff.

[22] zitiert nach Übergänge Nummer drei, S. 81, Fn. 24.

Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

Wertkritischer Exorzismus
Hässlicher Deutscher
Finanzmarktkrise