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 übergänge Zirkular : Nr. 2 : Editorial

Daniel Dockerill

Spezielle Übergänge

Das Nationale, die Marxologie, der Unsinn, der Hund und der Mond

Mit ausschweifenden Reaktionen auf die erste Ausgabe unseres Zirkulars in der dis-kursierenden Linken war zweifellos nicht zu rechnen gewesen. An eine diffus sich „links“, „oppositionell“, „emanzipatorisch“ oder einfach „kritisch“ etikettierende, exklusive Öffentlichkeit haben sich die Initiatoren dieses Diskussionsprojekts mit ihrer Sammlung kopierter Blätter sowieso nicht gerichtet. Untereinander sehr heterogen nachdenkend und argumentierend, ohne schon Divergenzen hinreichend genau bestimmen zu können, durch die nervenden Ansprüche alltäglicher Lebensproduktion an jeden von uns (aber wiederum an jeden verschieden) alles andere als prädestiniert, die uns umtreibenden Menschheitsfragen theoretisch auch nur einigermaßen fundiert anzugehen und gar den bescheidenen Zwischenresultaten eine les- und diskutierbare Form zu geben, sind wir schon heilfroh, wenn wir die Diskussion unter uns und in unseren persönlichen Umfeldern in Schwung bekommen und halten.

Um so dankbarer sollten wir dafür sein, daß wir denn doch auch außerhalb unseres verstreuten Zirkels in einem Fall öffentlich zur Kenntnis genommen und gebracht worden sind. In der Nummer 98 (Oktober ’94) der Spezial („links und radikal“) aus Hannover gab es eine regelrechte Rezension. Und in einem nicht gezeichneten, offenbar redaktionellen Beitrag wird nicht nur auf meine Polemik „Krisis am Ende“ zweimal ausdrücklich, freilich recht eigenartig, Bezug genommen, sondern werden auch implizit wesentliche Teile ihrer Argumentation – leider ziemlich kopflos – ausgeschlachtet.[1] Anlaß zu Dankbarkeit gibt es so allenfalls, insofern die linksradikalen Diskussions-Spezia­listen vorführen, wie die Diskussion, die wir uns wünschen und nötig haben, todsicher erledigt werden kann, bevor sie richtig begonnen hat.

Karl Müller, unser spezieller Rezensent, macht sich Sorgen um die „politische Substanz“ der Übergänge, der er nicht so recht zutraut, daß aus ihr

„eine eigenständige Theorieproduktion hervorwächst, die die ständige Herausgabe einer eigenen Zeitschrift jenseits des Lustprinzips, sich als Krisis-KritikerIn zu outen, rechtfertigt.“[2]

Daß es, über das hinausgehend, was unsere Zirkularblätter jeweils an bestimmten, mehr oder weniger diskutablen Gedanken transportieren – und so unbrauchbar ist darin nach Karl Müllers wohl „eigenständigem“, wenn auch nirgends begründeten Urteil die erste Ausgabe nicht gewesen –, ihre Herausgabe noch besonderer „Rechtfertigung“ bedürfte, das haben wir nicht gewußt – ehrlich!

Wie hätten wir auch? Scheint doch sowieso aller-, namentlich linksradikalenorts gerade das Gegenteil „eigenständiger Theorieproduktion“ angesagt zu sein. Ob wir die in konkret, Bahamas und sonstwo veranstaltete Debatte übers linke Verhältnis zu „Nation“ nehmen oder die um Günther Jabobs „Lebenswelt“-Abhandlung kreiselnde Spurensuche nach dem abhanden gekommenen Klassenkampf – immer geht es nur noch darum, den Zerfall linker theoretischer Gewißheiten in Grenzen zu halten, wobei bloß strittig ist, welche noch dazu gehören und welche nicht. Und mit jeder aufkommenden weiteren Frage scheint die Halbwertszeit des verbliebenen Inventars rapide zu sinken. Unter solchen Umständen mag es dann schon wie eine besonders „theoretische“ Glanzleistung aussehen, wenn ganz Belesene unseres unverwüstlichen Rests ihre Chance nutzen und geschwätzig aufzählen, wo überall, wenn man nur endlich zugriffe, bei gewerbsmäßig Theorietreibenden für diesen und jenen Bedarf etwas abgeholt werden könnte.[3]

Daß es sich eigentlich um theoretische Fragen handelte, d. h. um Erforschung und Aufklärung bestimmter objektiver Zusammenhänge, ist den Debattenbeiträgen selten anzumerken. Unversehens mischt sich in die winzigste gedankliche Bewegung die Abwehr der Drohung, die gesamte, auf kümmerlichste Abstraktionen heruntergebrannte linke Spezialsicht auf die Welt und das davon genährte eigenartige Lebensgefühl könnten ihre Daseinsberechtigung verlieren. Anders läßt sich kaum erklären, daß beispielsweise jemand wie Günther Jacob, der den Kommunisten vergangener Zeiten mittlerweile übelnimmt, überhaupt politisch taktiert und mögliche Verbündete nach dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit taxiert zu haben, statt nach deren ideologischem Brimborium, sich seinerseits rein taktisch verhält in der Erörterung der Frage, wie der frühere Umgang von Kommunisten mit dem Problem nationaler Gegensätze, zu beurteilen sei.[4]

Als wäre es für Kommunisten schon immer so einfach gewesen wie heute, da eh kein Hahn mehr nach ihnen kräht, von der Warte kraftlos sauberer Prinzipien herab den Schmutz politischen Geschäfts zu verachten; als wäre der Beruf von Revolutionären schon immer vor allem die Nabelschau gewesen, abstrahiert Jacob kurzerhand von allem, was Kommunisten einst erst gezwungen hatte, in sogenannten „nationalen Fragen“ Stellung zu beziehen, und läßt den Eindruck entstehen, sie hätten ohne Not sich in derlei Konflikte verwickelt. Der gelernte Leninist will heute nicht mehr wissen, daß insbesondere die Sozialdemokratie Lenins, mit dessen Namen er den nationalen Sündenfall des Kommunismus vornehmlich verknüpft, tatsächlich nur die Wahl hatte, gegen den im Zarenreich herrschenden großrussischen Chauvinismus die sich zur Wehr setzenden kleineren Nationen zu unterstützen oder sein stiller Verbündeter zu werden, wofür denn auch der verglichen mit Lenins äußerst flexibler Taktik prinzipielle Antinationalist Stalin 1923 und später den praktischen Beweis antrat. Konkret zur Kenntnis genommen, ließe sich eine Menge lernen aus der Geschichte: darüber, wie Revolutionäre, die unmittelbar die Bornierungen in den Köpfen ihrer Mitmenschen zu bekämpfen suchen, statt zuallererst und sorgfältig mit den bornierten Verhältnissen zu rechnen, sich ihrerseits sehr schnell als bloße, bewußtlose Momente dieser Verhältnisse erweisen und in gemeingefährliche Spießer verwandeln, wenn sie praktische Gelegenheit dazu erhalten.

Der gegenwärtigen linken Debatte dagegen über jene und ähnliche Geschichten läßt sich wohl nur noch entnehmen, wie traurig es um die Verfassung von Revolutionären steht, die sich selbst überlebt haben. Die seltsam bußfertige Manier kommunistischer Selbstkritik erinnert leise an die seligen Kindertage des im Gefolge der letzten großen bürgerlichen Revolution in Frankreich erwachenden modernen Kommunismus. Begann dieser damit, die Ideale der burgeoisen Praxis einzufordern gegen deren unvollkommene, zerrissene Realität, was aber nur die Kritik jener Ideale vorbereitete und das kritische Moment der bürgerlichen Praxis selbst entdecken half, so scheint der greise Kommunismus am Ende seiner Tage zwanghaft damit beschäftigt, nun seine eigenen Ideale blank und blanker zu putzen, daß ihm das allzu glanzlos anmutende Resultat der zwei Jahrhunderte des Kampfes ein bißchen verziert werde. Wozu sonst taugen solche wieder einmal zuerst auf die Gesinnung zielenden Säuberungsaktionen wie etwa dieser linksradikale antinationale Diskurs?

Es liegt eigentlich auf der Hand, daß die Schwierigkeiten heutiger Postrevolutionäre, Ordnung zu bekommen in ihr, obgleich fast schon rein platonisch, zusehends unübersichtlich gewordenes Verhältnis zu allen möglichen sozialen (darunter auch nationalen) Streitfragen[5] der Gegenwart, in jenem Verhältnis selbst begründet sind, welches wiederum nur reflektiert werden kann, wenn eben diese gegenwärtige Welt, wie sie geworden und also beschaffen ist, endlich wieder objektiv betrachtet, d.h. theoretischer Gegenstand wird. Der in ihrer spezifischen Perspektive unverdrossen ausharrenden Restlinken erscheint ihre Lage statt dessen vorzugsweise als gigantischer Fehlschlag der Geschichte, der etwa der Dummheit der eigenen revolutionären Vorfahren oder anderen menschlichen Schwächen anzulasten ist, die nur durch fleißige, Geist und Seele reinigende Exerzitien zu beheben sind. Wenn Günther Jacob „die wuchernden Identitätsdiskurse“ etlicher (ex-)linker Zeitgenossen auf die Nerven gehen, hat er mein aufrichtiges Mitgefühl. Daß er aber Lenin vorwirft, der habe es versäumt, gewissermaßen im voraus gegen solches postmoderne Wimmern des Zeitgeists „grundsätzliche praktische und theoretische Einwände ... vorzubringen“, stellt eine theoretische Bankrotterklärung der heutigen Linken dar, die Jacob ganz allein verantworten soll.

„Eigenständige Theorieproduktion“? – Jacob beanstandet „eine eigentümliche ‚Dialektik“ in Lenins Ausführungen zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen, nach welcher dieser „einen Standpunkt der Totalität bezieht“, obwohl doch „jenes unmittelbare Wissen vom Ganzen ... vom Prinzip der Dialektik gerade ausgeschlossen“ werde. Das ist zum einen astreine Demagogie, denn im Gegensatz zu Jacob „bezieht“ Lenin keineswegs einfach einen „Standpunkt“, sondern entwickelt seine Argumentation am konkreten Gegenstand, den bestimmten politischen Verhältnissen in Rußland am Vorabend des Ersten Weltkriegs, und beleuchtet die darin liegenden verschiedenen Möglichkeiten ihres weiteren Werdegangs; sein Festhalten am Selbstbestimmungsrecht der Nationen begründete Lenin gerade damit, daß der tatsächliche Verlauf der Dinge nicht vorhersehbar sei. Zum anderen aber schmeißt Jacob sich mit solchem versierten Bekennertum zum subjektiven Partikularismus an ein nach dem Wissenschaftlichkeits-Kanon der Akademie genormtes Publikum ran und gibt beiläufig der Selbstbescheidung einer radikalen Linken zur festen Einrichtung als nörgelnd-böses Gewissen der häßlichen Nation eine gewissermaßen philosophisch-me­thodologische Begründung. Der Erfolg ist derartigen Texten schon deshalb einprogrammiert, weil sie dem Verzicht auf produktiven Gebrauch des eigenen Kopfes den kritischen Segen erteilen.[6]

Und sonst: „Eigenständige Theorieproduktion“? – Auf allen Seiten wird sich gegenseitig versichert, daß theoretisch allerhand endlich, wie man so sagt, „zu leisten“ sei, und die Heftigkeit eines Postulats steht bekanntlich im reziproken Verhältnis zu dessen Erfüllung. Wer traut sich denn noch, zu all den beklagten theoretischen „Defiziten“ drei zusammenhängende Gedanken „eigenständig“ nicht nur zu formulieren, sondern auch zu begründen? (Auf Originalität käme es überhaupt nicht an, aber auf eine irgend erkennbare Bereitschaft, fürs Dargebotene selbst die Verantwortung zu tragen.) Bei Sätzen wie dem Folgenden jedenfalls – und er steht hier wirklich nur als beliebiges Exempel –, würde ich vor allem gerne wissen, was seinem Schreiber derart auf den Magen geschlagen ist, daß er so herumdrucksen muß:

„In Verlängerung der Eindimensionalität personifizierter ökonomischer Kategorien setzt die Rothsche Aufhebungsstrategie folglich nicht an den Wert-Wa­re-Geld-Beziehungen und dem Staat an, sondern verkürzt sich als Kampf entlang der Lohnarbeitsbeziehungen.“

Diesen Wortsalat (eine „Strategie“, die „nicht ansetzt ... sondern ... in Verlängerung ... sich verkürzt“) entrang sich unser Rezensent gelegentlich der Beurteilung eines anderen Stücks linker Debatte.[7] Mal abgesehen davon, daß ich nicht weiß, was das sein soll: eine „Lohnarbeitsbeziehung“ oder gar ein „Kampf entlang“ derselben, wird hier bloß gekläfft („Eindimensionalität“) oder geknurrt („verkürzt“), statt gebissen und die Leserschaft zurückgelassen mit der Ahnung, daß da irgend jemand was nicht richtig sieht, sowie der Gewißheit, daß freilich die richtig richtige Sicht der Dinge noch eine ziemlich undurchsichtige Angelegenheit ist.

Solches intellektuelle Versteckspiel (Motto: wenn du mich haust, haut dich mein großer Bruder!) ist aber leider die Regel, nicht die Ausnahme im linken Diskurs, die Methode hat offenbar System. So versichert unser Rezensent zwar, daß es „theoretisch spannend“ zuginge in der Nummer Eins der Übergänge, aber schon die Wiedergabe der wenigen Kostproben, die er davon vorstellt, ist teilweise dermaßen mißglückt, daß ich mich gefragt habe, ob’s an der falschen Brille gelegen hat.[8] Vor allem jedoch läßt er seine Leser (also auch uns, deren Diskussionsangebot er beurteilt) vollkommen darüber im Dunkeln, was denn Karl Müller bei der Lektüre so spannend gefunden hat und warum. Schade! – Darüber hätten wir vielleicht in die Diskussion kommen können.

Statt dessen wird Karl am Schluß ganz väterlich. Der Gegenstand, an dem sich die erste Ausgabe unseres Zirkulars vornehmlich abarbeitet, so läßt er durchblicken, ist eigentlich gar keiner: nämlich keiner für umständliche theoretische Erörterungen. Die dem Gegenstand „entsprechende“ Form sei die von ihm gelieferte „kabarettistische Einlage“[9] (die wir übrigens alle sehr hübsch fanden und zur Auflockerung gerne in unsere Nummer Eins genommen hätten, wenn sie nicht schon in Spezial gebracht worden wäre). Wenn wir „eine andere Form – nämlich die der Übergänge – wählen“ müßten, sei das unserem sozusagen persönlichen Pech geschuldet, daß „die Mehrzahl der Übergänge-AutorInnen“ den Großteil ihrer „politisch-theo­retischen Sozialisation unter den despotisch-für­sorglichen Theoriefittichen eines Robert Kurz erlebte“ (das muß Karl wohl irgendwo im Spiegel gelesen haben, dem man bekanntlich nicht aufs Wort glauben darf) und daher „Kritik mit dem eigenen Abnabelungsprozeß verbinden“ müßten. Warum nur verlegen sich Linke so gerne aufs Psychologisieren, wo Austausch und Prüfung von Argumenten angezeigt wäre?

Nimmt man etwa die letzten Ausgaben der Spezial zum Maßstab, dann hängt offenbar schon alle Welt am Nabel der Krisis. Reichlich „Marxologischer Unsinn à la Krisis“ (Müller) findet sich namentlich bei Karl Müller selbst in seiner Rezension des Buchs von Karl Heinz Roth (man sehe sich unter diesem Gesichtspunkt zum Exempel noch einmal das oben daraus angeführte Zitat an). Mit kabarettistischen Einlagen allein kommen ihm auch weniger von ihrer spezifischen Biographie gebeutelte Autoren anscheinend nicht bei. Der ganze Tenor dieser zweiten Müller-Rezension, der so tut, als seien der sogenannte „Arbeiterbewegungsmarxismus“ (auch so ein „Unsinn“) und dessen „Kapital“-Rezeption für reflektierte Linke auch theoretisch eine an sich längst abgetane Sache (das Totschlagetikett „ontologisch“ darf darin natürlich nicht fehlen), liest sich wie die – zudem ziemlich miserable – Kopie der Krisis-Schreibe.

In „Krisis am Ende“ wies ich daraufhin, daß die Diktion der Krisis bereits „allenthalben Eingang in die literarischen Erzeugnisse linker Autoren“ gefunden hat, „unabhängig vom Wohlwollen, das sie dem Projekt der Krisis entgegenbringen.“ Ich hatte dabei nicht zuletzt an jemand wie Karl Müller gedacht. Wenn die Krisis das Ende einer Epoche konstatiert und die linke Misere als Moment dieses Endes deutet, dann hat sie sich das eben nicht bloß aus den Fingern gesogen. Davon ahnt natürlich selbst der bornierteste linke Schreber etwas. Die intelligenteren Linken haben denn auch begriffen, daß das theoretische Instrumentarium, mit dem man sich bis vor kurzem die Welt noch leidlich erklären zu können glaubte, vor der sich rapide verändernden Lage gründlich versagt. Wenn sie den Vorschlag der Krisis ablehnen, es einfach als veraltet zu verschrotten, so liegt darin das Richtige, daß in der Tat neue theoretische Einsichten nicht ohne den Durchgang durch die Kritik früherer Überzeugungen zu bekommen sind, wie ja die Krisis gerade vorführt, die der Lockungen des albernsten Praktizismus, der Berufung auf scheinbar unmittelbar einleuchtende Notwendigkeiten, sie mit ein wenig postpostmodernem Dekonstruktionsgebrabbel „theoretisch“ zu begleiten, sich kaum noch erwehren kann. Es kann aber fast nicht wahr sein, daß dieselben dagegen stur zu Marxscher Theorie irgendwie sich bekennenden Linken, wenn sie um ihre theoretischen Neuansätze streiten, just den elementarsten Gesichtspunkt jener Theorie nicht berücksichtigen, daß nämlich die theoretischen wie alle anderen Formen gesellschaftlichen Bewußtseins keine aparte Existenz haben, sondern Momente des konkreten gesellschaftlichen Seins überhaupt darstellen und nur im Zusammenhang des Ganzen dieses Seins erklär- und damit erst kritisierbar sind.

Was macht es für einen Sinn, sich mit Karl Heinz Roth darüber zu streiten, wie das „Kapital“ richtig zu lesen sei, wenn doch Roth – völlig unbekümmert um „ökonomische Kategorien der Kapitalanalyse“, die Karl Müller dagegen zurechtrücken zu müssen glaubt – nur auf bestimmte empirisch feststellbare globale Veränderungen sozialer Realität aufmerksam machen will. Einem Empiristen vorzuwerfen, daß er einer ist, hat vermutlich noch weniger Nährwert, als der von Karl Müller Roth ob dessen Empirismus’ metaphorisch zugedachte, den Mond anbellende Hund „praktische Wirkung“ hat. Daß

für „Roth ... Handlungen der Träger des Klassenverhältnisses auf der Kapitalseite immer als bewußter Vollzug kapitalistischer Gesetzmäßigkeiten“ erscheinen,

ist eben nicht einfach „ein ausgemachter Schmarren“, denn die Rothschen „Gesetzmäßigkeiten“ sind nichts anderes, als jene empirisch ermittelten und im Sinne seiner linksmilitanten Leidenschaften interpretierten „Handlungen der Träger des Klassenverhältnisses“. Es macht gewissermaßen die subjektive Stärke dieses autonomen Theoretikers aus, daß er absichtlich nicht nach einem objektiven Inhalt seiner sogenannten „Klassenanalyse“ fragt. Sein „Linkssein“ als Parteilichkeit für „die ausgebeuteten Gesellschaftsklassen“[10] ist damit allen Anfechtungen entzogen, die eine Zeit dafür bereithält, in der die Vergänglichkeit aller Gesetzmäßigkeit, mit welcher marxistische Linke zu rechnen gewohnt waren, ihnen sozusagen täglich um die Ohren fliegt – sofern sie überhaupt noch den Kopf gelegentlich zum Fenster hinaus stecken. Karl Heinz Roth ist so einer der selten gewordenen linken Autoren, die theoretisch unbefangen auf das reflektieren, was unter unser aller Augen vor sich geht, ohne in misanthropischem Sarkasmus zu versinken.

Wenn Karl Müller gegenüber solch „empirischer Faktenhuberei“ oberlehrerhaft die Differenz von „gesetzmäßigem“ Klassenantagonismus und „Handlungen und Motiven“ der sozialen Subjekte ins Spiel bringt, verfehlt er gleich in doppelter Weise das Thema. Nicht nur, daß jene „kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten“, von denen Müller spricht, seinen Widerpart sowieso nicht interessieren, dem in der Tat die Marxsche Theorie (darin insbesondere die des Mehrwerts) wie Müller gut bemerkt, bloß als „Steinbruch“ dient.[11] Entscheidender ist, daß Müller nicht einmal auf die Idee kommt zu fragen, ob die von ihm verspürte Notwendigkeit, besagte Differenz und ihre Vermittlung neu zu thematisieren, nicht auch etwas mit dem Wandel dessen zu tun hat, was da differiert und vermittelt werden muß. Das auf die Differenz von Wesen und Erscheinung des Kapitalismus abhebende Argument verkommt so zur Ausrede dafür, daß man sich dem am Kapitalverhältnis im Ganzen vorgegangenen geschichtlichen Prozeß nicht mehr als oberflächlich zu stellen bereit ist.

Marxologischer Unsinn hin oder her – die Krisis hat den historischen, an sich selbst ihre Negation besitzenden Charakter der „Gesetze“ des Kapitalismus im Zusammenhang mit dem Niedergang der Linken erstmals ausgesprochen. Dieses Moment ihres Diskurses ist freilich am allerwenigsten zur Kenntnis genommen worden geschweige denn, daß es produktiv aufgegriffen worden wäre. Wo überhaupt wahrgenommen, stößt es auf eine diffuse Abwehr, die gegen eine darin vermutete Katastropheneuphorie irgendwelche unverwüstlichen Lebenskräfte des Herrn Kapital schaudernd beschwört. Indes hat die Krisis ihren bahnbrechenden, noch kaum selbst begriffenen Gedanken sogleich ins linksordinäre Schema zurückgebogen, indem sie die heute vorzufindende modernste Form von Kapitalismus zu der seinem Wesen einzig adäquaten erklärte und so allen vorausgegangenen Wandel wieder in etwas jenem Wesen an sich Äußerliches verlegte. Wesen bzw. die „Gesetzmäßigkeiten“ des Kapitalismus waren damit glücklich dahin gemodelt, daß sie der Verwesung weiterhin entrückt scheinen, welcher alles sonst Irdische unweigerlich irgendwann anheim fällt. Und so kann auch ein Karl Müller fröhlich einstimmen, daß

die „Verdinglichung persönlicher Beziehungen zu Sachbeziehungen vermittelst des Geldfetischs ... nicht nur die Handlungen auf der Kapitalseite, sondern gerade auch die Handlungen und Motive auf der Seite der Lohnarbeit“ forme.

Während aber die Krisis immerhin ganze Arbeit tut und „vermittelst des Geldfetischs“ Ausbeutung, Mehrwert, Klassen, Klassenkampf und also auch das Klassenindividuum gleich komplett in den Ausguß kippt, überkommen Karl Müller hier die bekannten linken Skrupel. Irgendwie gibt’s das noch, „das Klassenindividuum“ – wenn man auch nicht recht weiß, wie; oder gar, was damit anzustellen wäre. Und so ergibt das Gesamtresultat der kritischen Übung ein eigenartiges Stillstehmanöver (Motto: „Mir nach! Ich folge euch!“), bei dem am Ende nur zum mittlerweile x-ten Male die Parole

„der eigenständigen Wiederaneignung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie“

ausgegeben wird,

„weil ohne diese die Vorstellung einer kommunistischen Gesellschaft aus der Kritik der Verhältnisse selbst nicht abzuleiten ist.“

Damit kein Mißverständnis entstehe: Nichts gegen die Parole! Sie ist zweifellos an der Zeit. Zur Abrundung fehlen ihr eigentlich nur noch die goldenen Worte unseres geschätzten Ingwer („Statt eines Editorials“ der Erstausgabe der Übergänge):

„Und davon soll man irgendwann nicht mehr nur groß reden, sondern damit muß man irgendwann mal anfangen.“

Es läßt sich jedoch prophezeien, daß eine Rückwendung zu den theoretischen Wurzeln, die nicht einhergeht mit der gründlichen Reflexion des Provisoriums unseres eigenen historischen Standorts, der Versuchung kaum widerstehen wird, der Theorie Gewalt anzutun, von der die Geistesblitze zur Auflösung des linken Frusts erhofft werden. Die Kritik der politischen Ökonomie ist nämlich tatsächlich Kritik einer (freilich heute längst verstorbenen) Wissenschaft und folglich selber Wissenschaft. Sie hatte daher schon zu Marxens Zeit keineswegs unmittelbar „eine Kritik der Verhältnisse selbst“ zum Zweck, waren doch diese vor allem der Gegenstand, auf dessen adäquate Darstellung sich die Kritik bezog. Jene „Kritik der Verhältnisse selbst“ hatte allerdings – anders als heute – einen in eben diesen Verhältnissen selbst deutlich auszumachenden und vernehmbaren Anwalt, so daß es keinerlei Vorsatzes bedurfte, aus der Kritik ihrer Darstellung die „Vorstellung“ besserer Verhältnisse hervorgehen zu lassen. Die Kritik zielte vielmehr auf jene Vorstellungen „einer kommunistischen Gesellschaft“, die sowieso von den Verhältnissen erzeugt wurden, und den Maßstab der Kritik lieferten wiederum die Verhältnisse selbst. Kurz und gut und ein weiteres Mal:[12] Nicht die kritische Wissenschaft des Karl Marx entdeckte sich ein revolutionäres Subjekt nach ihrem Bilde, sondern das revolutionäre Subjekt der Verhältnisse selbst eroberte sich durch Marx ein Stück Wissenschaft. Vergeblich daher die Hoffnung, die Kritik der politischen Ökonomie – wäre sie nur erst „eigenständig angeeignet“ – könnte uns heute jenen schmerzlich vermißten Erlöser endlich neu „verorten“, der sich empirisch nicht bestimmen lassen wollte. Die Häme über Karl Heinz Roths

„Klassenanalyse, die ihren Klassenbegriff nur mittels empirischer Klassenlagen füllt“,

ist darum eigentlich ziemlich unangebracht und soll offensichtlich nur unserem Rezensenten die Mißlichkeit auch der eigenen Lage vergessen helfen. (Die Sprache verrät im Übrigen – wie so manches Mal – hier mehr, als der Autor sagen wollte: An der offenkundigen Hohlheit jenes „Klassenbegriffs“, den er anders „gefüllt“ sehen möchte, findet Karl Müller nichts auszusetzen.)

Andererseits: Was bleibt von der Linken ohne Aussicht auf ihre Revolution? Denn wahr ist ohne Zweifel, was Gerd Kuhnen und Holger Schlüter zu Beginn ihres unverdient unbeachtet gebliebenen Buches aus dem Wendejahr zum Thema schreiben, daß es

„keine Revolution (gibt) ohne revolutionäres Subjekt, mag sie auch noch so überfällig und notwendig sein“[13]

oder jedenfalls denjenigen erscheinen, die nun einmal mit dieser Idee ihre ganze Existenz verklammert haben. Die heutige, sogenannte neue Linke, bzw. das, was das Jahr 1989 davon übriggelassen hat, ist groß geworden in den letzten Nachbeben eines Zeitalters gewaltigster revolutionärer Erschütterungen, welche die Welt in historisch kürzester Zeit nachhaltiger veränderten als jemals zuvor. Deren Ausläufer als die Vorboten einer kommenden, alles entscheidenden Revolution mißdeutend, haben viele von uns, je unabweisbarer die phantastische Revolution sich als Schimäre entpuppte, desto gründlicher, vergessen, worüber man sich beim Studium der stattgehabten Revolutionen und ihrer Theoretiker hat aufklären können, daß noch jede Revolution, die im Verlauf der Geschichte fällig war, ihr Subjekt gefunden, aber auch die Revolutionäre schließlich gefressen und am Ende in ihren unmittelbaren Resultaten, gemessen an den sie beflügelnden Ideen, ziemlich erbärmlich ausgesehen hat.

Je mehr aber die Linke hinsichtlich der Aussichten auf eine wirkliche Revolution sich desillusionierte, desto illusorischer geriet ihr Bild von jener „an sich notwendigen und überfälligen“, schimärischen Revolution. Desto mehr, auf der anderen Seite, verwandelte sich ihr alle bisherige, jedenfalls neuere Geschichte in den oben erwähnten bösen Unfall, auf den inzwischen solche Bekenntnisse gegründet werden können, wie Günther Jacobs antinationale Bußpredigt. Und so ist der einstmals selbstgewisse und darum auch gegen die eigenen Vorstellungen von dem, was das Wohl der Menschheit ausmacht, rücksichtslos forschende Zugriff auf die inneren Antriebe der sich umwälzenden Verhältnisse, mit welchem der Sozialismus – eher ernüchtert als stolz – sich zur Wissenschaft erklärte, in das kleinlaute Geständnis zusammengeschrumpft,

„daß die Linke heute erstmal Klarheit über das braucht, was Kapitalismus ist.“[14]

Wie nun, wenn, was ist, schon nicht mehr aufginge in dem, „was Kapitalismus ist“? – Aber es stimmt schon: Selbst die Abstraktionen, von denen die Linke sich mittlerweile die Legitimation ihrer separaten Existenz mehr oder lieber weniger ausdrücklich ableiten muß, kann sie kaum noch buchstabieren. Insofern gibt es hier tatsächlich Spielraum für den einen oder anderen Schritt vorwärts, d. h. weg von der jammervollen linken Selbstbespiegelung. Aber auch solche Ansätze werden als beste Absichten im Handumdrehen beim Teufel sein, wenn nicht schnellstens eine der schlimmsten im linken Tümpel herangezüchteten Unarten wenigstens der Lächerlichkeit preisgegeben wird: diese aufgeplusterte Drübersteherei, die, aus Angst, sich festzulegen und den dann möglichen Nachfragen nicht standzuhalten, oder auch bloß aus Ideenlosigkeit gewichtig dreinschauende Andeutungen statt überprüfbarer Argumentationen darbietet.

Die Auseinandersetzung mit der fundamentalen Wertkritik der Krisis ist jedenfalls alles andere, als das Spezialproblem einer Handvoll persönlich darein verstrickter Dissidenten. Aber Karl Müller oder andere Spezialisten sind herzlich eingeladen, uns ausführlicher zu verklickern, inwiefern Weisheiten der folgenden Art über den „marxologischen Unsinn à la Krisis“ irgendwie hinaus sind:

„Die ›Arbeit‹ kann gar nicht über das ›Kapital‹ siegen, weil sie es für ihre eigene Existenz braucht, weil Lohnarbeit und Kapital nur andere Formen des entwickelten Tauschwertes und somit des Kapitalverhältnisses selbst sind.“[15]

Mir vermitteln solche Sätze vehement den Eindruck, daß nicht wenige Linke einiges gewinnen könnten, wenn sie sich wenigstens auf die Höhe der fundamentalen Wertkritik heraufarbeiteten. Dermaßen unverblümt tautologisches Wischiwaschi haben sich Kurz, Lohoff und Co. (zumindest in ihren besseren Zeiten – für das neuere Zeug übernehme ich lieber keine Garantie) nicht getraut, zu Papier zu bringen. Bei so etwas freilich versagte wahrscheinlich sogar die Kritikform der „kabarettistischen Einlage“, weil die Kritik von ihrem Gegenstand schwerlich zu unterscheiden wäre.

Es ist also nicht nötig, die speziellen Biographien der Herausgeber der Übergänge zu bemühen, um zu erklären, warum wir auch in unserer vorliegenden zweiten Ausgabe besondere Aufmerksamkeit der Krisis schenken. Meine ausführliche Kritik („Wertkritischer Exorzismus statt Wertformkritik“) des fundamentalen Klassikers ihrer Wertkritik, der im Jahre 1987 das Licht der Welt erblickte, als die Krisis noch Marxistische Kritik hieß, bis heute aber noch keiner näheren kritischen Untersuchung unterzogen wurde, ist darum nicht zufällig geeignet auch dabei zu helfen, allerhand neueren „marxologischen“ Unsinn (à la Spezial, Müller etc. etc.) zurechtzurücken. Dem aufmerksamen Leser aller Beiträge dieser Übergänge wird freilich nicht entgehen, daß darin sich ebenfalls Äußerungen zum Waren- und Wertformproblem finden, die mit dem Ergebnis meiner Kritik nicht ohne weiteres in Übereinstimmung zu bringen sind. Die Übergänge sind eben wirklich ein Diskussionsangebot und keine Bühne zur geballten Darbietung schon im voraus abgeglichener Auffassungen. Sie sind darum freilich darauf angewiesen, daß das Angebot (von außen und von innen) wahrgenommen wird.

Mit der Diskussion geht es zum Glück auch gleich los – bzw. weiter: Die ersten beiden Texte (Matthias Grewes „Zwischenrede“ und „Noch ’ne Widerrede“ von Eva Abendroth) spinnen, aufgehängt an Evas erster „Widerrede“ auf unser erstes Editorial, das keines sein sollte, von Ingwer Schwensen, den Streit fort um die offenkundig unter uns Zirkulanten im Detail sehr unterschiedlichen Auffassungen darüber, was und wie diskutiert werden muß. (Vielleicht nicht ganz unnötig, hier gleich festzuhalten, daß auch dieses zweite Editorial bloß die ganz persönliche Ansicht seines Autors wiedergibt, der sich darüber klar ist, daß mancher polemische Ausfall darin leicht auch auf vieles in den Übergängen zu Lesende gemünzt werden könnte.) Der Beitrag Robert Schlossers, „Kapitalismuskritik – na und?“, ist schon etwas älteren Datums; er entstand im Zusammenhang der Vorgespräche über die Möglichkeiten der gemeinsamen Herausgabe eines Zirkulars, wird aber vom Autor hier durchaus auch als Kontrapunkt zu Ingwers Start-„Statt“-Editorial und der daran entflammten Diskussion verstanden.

An die Nummer Eins der Übergänge mehr oder weniger ausdrücklich anknüpfende Diskussionsbeiträge stellen auch die anschließenden drei Texte dar. Bezugspunkt ist Franz Lindemanns in den ersten Übergängen abgedruckter Vortrag „Ontologie und Geschichte“. Es war dies – für uns etwas überraschend – der Beitrag unser Startnummer, der die größte Resonanz hervorrief. [(Klaus Koch als Beispiel?)]

Übrigens irrt Karl Müller, wenn er glaubt, darin „den ganzen schon bekannten Nürnberger marxologischen Unsinn“ gefunden zu haben. Lindemanns Text steht, soweit nicht einfach für sich selbst, für eine über die Krisis weit hinaus reichende und auch ganz unabhängig davon entwickelte, viel profundere Marx-Kritik; Michael Heinrichs 1991 beim VSA erschienene „Wissenschaft vom Wert“ beispielsweise hat hier viel eher Pate gestanden als Robert Kurz und die Krisis, und mit einer witzigen Persiflage ist die erst recht nicht abgetan, auch wenn so etwas zwischendurch dringend gebraucht wird, damit der Spaß am manchmal recht drögen theoretischen Kritisieren nicht verloren geht.

Ziemlich harsch ausgefallen ist Eva Abendroths Reaktion („Marx – Oder: Wie wird man ihn los?“) auf Franz Lindemanns Artikulation seiner Schwierigkeiten mit Marx. Aber Franz ist ja mit dem alten Marx auch nicht gerade zimperlich umgesprungen und besitzt diesem gegenüber den unschätzbaren Vorteil, daß er sich wehren kann, wofür ihm auch die Übergänge selbstverständlich weiterhin offen stehen.

Nicht so ausdrücklich auf den Lindemannschen Text reagierend, aber sehr wohl von ihm angestoßen, beziehen sich Zwi Schritkopcher („Marx endlich vom Kopf auf seine Füße stellen!“) und Matthias Grewe („Ontologie als Geschichte“) vor allem auf das von Franz Lindemann zwar recht unmißverständlich zum Ausdruck gebrachte, jedoch kaum begründete, vielmehr als feststehend vorausgesetzte Ontologie-Verbot (noch so ein „Unsinn“, mit dem Karl Müller – siehe oben – blendend zurechtkommt) und versuchen zu begründen, warum Marx Ontologe (nicht der Arbeit, sondern des gesellschaftlichen Seins) sein mußte, um Geschichte materialistisch zu erschließen und für eine menschlich-emanzipatorische Perspektive zu öffnen. Gemeinsam haben sie ihren Texten eine Vorbemerkung vorangestellt, die das langfristiger angelegte Diskussionsprojekt vorstellt, in dessen Zusammenhang ihre beiden Texte entstanden sind.

Daß wir auch andere theoretische Ansätze als den der Krisis diskutieren, sei zum Schluß durch einen Hinweis auf unsere Sonderausgabe unterstrichen, mit der wir, unter dem Titel „Selbstverwirklichung als Flop“, Robert Schlossers in Spezial in vier Teilen erscheinende Auseinandersetzung[16] mit Günther Jacobs Arbeit „Kapitalismus und Lebenswelt“ all denjenigen zugänglich machen wollen, die sie entweder über Spezial nicht kennengelernt haben oder sie sowieso für eine ausführlichere Bearbeitung oder zum Weiterreichen gerne am Stück zur Verfügung hätten.

Bleibt noch zuletzt die Vermutung auszusprechen, daß ich mit diesem Editorial Nummer Zwei – wohl auch unter den Mitherausgebern der Übergänge – hier und da heftigen Protest provoziere, der dann in der nächsten Ausgabe sich hoffentlich Luft verschafft – mir soll es recht sein.

 


[1] Die Arroganz der Ohnmacht. Anmerkungen zur Bedeutung einer Theorie des bürgerlichen Individuums für die Existenz einer radikalen und politischen Linken. – Der ungenannte Autor dieses Textes bringt es fertig, seinen Lesern „Argumentationshilfe“ von meiner Seite für folgendes rührende Glaubensbekenntnis zu versprechen: „Aber das Kapitalverhältnis selbst verändert sich nicht, aller Wandel bleibt ihm äußerlich, das Kapitalverhältnis existiert oder existiert nicht, es hat keine ›Geschichte‹.“ Just gegen solchen Mist (woher, zum Beispiel, wäre denn solch ein geschichtsloses „Kapitalverhältnis“ in die Geschichte hinein gekommen?) ist die ganze Argumentation in „Krisis am Ende“ gerichtet. Es liegt hier also offenbar ein Fall schwerer Wahrnehmungsstörung vor, die einen nichts als die Rede von heiler linker Welt selbst dort noch hören läßt, wo ihr unverrückbares Bestehen im Kern in Frage gestellt wird.

[2] Karl Müller: Übergänge von irgendwoher nach irgendwohin. Erste Eindrücke von einem neuen Zeitschriftenprojekt. In: Spezial Nr. 98, S. 35.

[3] In Spezial Nr. 99 tat sich zum Beispiel ein Manfred Lauermann („Die Klasse der Individuen“) in der Weise hervor.

[4] Günther Jacob: Rechte Leute von links. In: konkret 5/94.

[5] Günther Jacob macht den feinsinnigen Unterschied zwischen einem „Kampf gegen soziale Repression“ und „nationalen Befreiungsbe­wegun­gen“. Was denn sonst wäre der Kampf gegen nationale Unter­drüc­kung (beispielsweise der Kurden durch den türkischen Staat) als Kampf gegen eine bestimmte Form „sozia­ler Repression“? Ist es vielleicht so, daß ausgerechnet die Ritter wider das „Nationale“ hin­ter ih­rem liebevoll gehaßten „Mythos“ etwas anderes vermuten als Sozia­les?

[6] Eine wirklich lesenswerte Kritik der Jacobschen Argumentation lie­fern Gerd Kuhnen und Holger Schlüter: Kommunistischer Sünden­fall oder Blamage der Interessen vor der Idee. In: Bahamas Nr. 15, Herbst 1994. Dies, obwohl sie die von Jacob mehr stillschweigend zugrundegelegte als ausgeführte Prämisse teilen – oder gerade weil sie sie offenlegen und ernst nehmen: Daß die Geschichte, zumindest die des Kampfes um den Sozialismus, ihr Maß an einer außerge­schichtlichen Vernunft habe, d. h. an dem, was ihnen heute als das eigentlich Vernünftige erscheint.

[7] Karl Müller: ... als wenn der Hund den Mond anbellt. Zur Kritik an Karl-Heinz Roths „Wiederkehr-Buch“. In: Spezial Nr. 99, S. 36.

[8] Zum Beleg sei hier nur das größte Ärgernis angeführt. Karl Müller schreibt: „In seiner Replik verweist Dockerill darauf, daß Marxens Doppelgesichtigkeit – und damit seine revolutionäre Subjektivität als das eine Gesicht – Ausdruck der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse war ... “ Die „revolutionäre Subjektivität“ stammte nicht von mir, sondern von Klaus Braunwarth, und dabei ging es nicht um eine dem Karl Marx eigene, son­dern um die, welche den kapitalistischen Verhältnissen entspringt – oder auch nicht. Mein gegen Klaus Braunwarths Fragestellung ange­führter Gedanke war der, daß Marx sich nicht als Möglichkeit theoretisch herleiten mußte, was er doch praktisch vorfand. Mit „Marxens Dop­pelgesichtigkeit“ hatte und habe ich gar nichts am Hut, statt dessen habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß der eine Marx, wie die allermeisten Men­schen, mehr als zwei Gesichter ge­zeigt hat (vgl. Übergänge Nr. 1, S. 43 f).

[9] Vom Widerborst zum Schöngeist. Bilder aus dem Leben eines Theo­retikers. In: Spezial Nr. 95.

[10] Vgl. Karl Heinz Roth: Die Wiederkehr der Proletarität. In: Frombeloff (Hg.): ... und es begann die Zeit der Autonomie. Ham­burg 1993, S. 272.

[11] Karl Heinz Roth spricht von „einer ziemlich verschwommenen Ar­beitswert- und Lohntheorie“ bei Marx (Frombeloff, a.a.O. S. 225) und an anderer Stelle von einem „Arbeitswert der notwendigen Ar­beitszeit“ (im Unterschied zur Mehrarbeitszeit des kapitalistischen Arbeitstages – a.a.O. S. 164), welcher letzterer mit Marx nun wirk­lich nichts zu tun hat, der nicht wenig Mühe darauf verwendete klar­zu­stellen, daß Arbeit (mithin auch ihr Maß, die Zeit) Wert bildet, aber keinen „hat“.

[12] Vgl. Fn. 8.

[13] G. Kuhnen / H. Schlüter: Mythos revolutionäres Subjekt. Hamburg 1990, S. 1.

[14] Heiner Möller, zitiert nach: Karl Müller: ... als wenn der Hund den Mond anbellt. A.a.O. S. 36.

[15] SPEZIAL-Redaktion: „Die Niederlage, die ein Sieg war“ – oder war es umgekehrt? 8. Mai, deutscher Aufstieg und die Restlinke zwi­schen Antinationalismus und Anpassung. In: Spezial Nr. 101, S. 17.

[16] Drei Teile liegen schon vor (Nr. 99, 100 und 101), der letzte wird demnächst in der Nr. 102 erscheinen.

Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

Wertkritischer Exorzismus
Hässlicher Deutscher
Finanzmarktkrise