Präsidialer Wutanfall

Zum diesjährigen Festakt am 7.11. im Schloss Bellevue wegen „35 Jahre Friedliche Revolution“ war u. a. der Schriftsteller Marko Martin eingeladen, einen von zwei Impuls-Vorträgen zu halten, der dann offenbar nicht ganz nach Wunsch ausgefallen ist. Beim Empfang nach dem Festakt sei jedenfalls der „Bundespräsident wutentbrannt“ auf Martin „zugestürmt“ und habe diesem „mehrfach wütend vorgeworfen, ihn zu diffamieren“, wie Martin später der Bild berichtet hat.

Die Schimpfe hatte der Referent sich allerdings redlich verdient mit den Leviten (nachzulesen bei welt.de), die er nicht nur dem Staatsobehaupt gelesen hatte, sondern der gesamten nicht zuletzt von Steinmeier, aber bereits lange vor ihm seit mindestens den frühen 80er Jahren von seinen politschen Ahnen geprägten deutschen Ostpolitik. Beispielhaft zitiert hatte er Egon Bahr, der 1982 im Vorwärts die polnische Gewerkschaft Solidarność als „Gefahr für den Weltfrieden“ tituliert hatte, und dies ganz treffend eine „wahnwitzige Infamie“ genannt. Und schließlich hatte er „[a]uch das Nord-Stream-Projekt, an dem SPD und CDU so elend lange gegen alle fundierte Kritik festhielten“, zur Sprache gebracht und Putins „Kalkül, dass die Deutschen, ansonsten Weltmeister im Moralisieren, das lukrative Geschäft schon nicht sausen lassen würden, Ukraine hin oder her.“

Ein Kalkül – dies blieb vom Referenten jedoch leider unerwähnt –, das recht gut aufgegangen ist, denn erst Putin hat besagtem Geschäft schließlich ein Ende gemacht, nicht etwa die deutsche Regierung. Die hatte vielmehr das billige russische Gas von ihrer Sanktionsliste explizit ausgenommen, weil sie es in ihre „Energiewende“ eingespreist hatte. Und das wiederum ungeachtet der Tatsache, dass Putin selbst sein Interesse an jenem Geschäft – lukrativ hin oder her – mit seinem Einmarsch in die Ukraine unübersehbar tiefer gehängt hatte: Hatten doch keine drei Wochen vor dessen Beginn Biden und Scholz sich dazu verständigt, dass „es Nord Strem 2 nicht mehr geben“ werde, wenn „Russland ... mit Panzern und Truppen die Grenze zur Ukraine überquert“, was im Umkehrschluss für den Fall, dass der Einmarsch unterblieben wäre, den Widerstand der USA gegen die Inbetriebnahme der fertiggestellten Pipeline ja deutlich infrage gestellt hätte. Noch fünf Monate nach Beginn der Invasion hatte dann die Bundesregierung mit ihrem Gehampel wegen der Reparatur einer Gasturbine für die Nord-Strem-1-Pipeline von Putin sich am Nasenring durch die Manege des globelen Politizirkus führen lassen – bis Putin schließlich selbst den Gastransport durch die Pipeline komplett abgedreht hatte.

Zu Recht spricht Martin in diesem Zusammenhang von „beträchtlicher Arroganz“, mit welcher auf deutscher Seite „überhört worden [war], wie hellsichtig in Osteuropa gewarnt wurde“ vor der Abhängigkeit, in die Deutschland mit seinem auf Russland konzentrierten Gas-Geschäft sich begeben hat. Aber diese Warnungen waren keineswegs nur aus Osteuropa gekommen, sondern nachdrücklicher vielleicht noch aus den USA und von der deutschen Politik auch mit keiner geringeren Arroganz quitiert.

Vollends in die Irre geht zudem eine Bemerkung des Referenten, die wohl auf die Nachricht vom Vortag, dass der kommende Präsident der USA wieder Donald Trump heißen werde, anspielt: Das bei all seiner Hellsichtigkeit „bedrohte Osteuropa“ werde „die Folgen“ der borniert aufs eigene Geschäft fixierten deutschen Politik „in der nächsten Zeit überdies womöglich sogar ohne amerikanischen Beistand“ zu tragen haben. Denn es war während der Präsentschaft Obamas gewesen, dass Putin die Krim annektiert und die gewaltsame Separation des Donbas von der Ukraine tatkräftig befördert hatte. Und auch als der Herr im Kremmel schließlich seine Soldaten über die gesamte Ukraine herfallen ließ, war wiederum nicht mehr Trump, sondern bereits ein gutes Jahr Joe Biden der Präsident der USA gewesen und hatte im Vorfeld angesichts des Aufmarschs der russischen Truppen an den Grenzen zur Ukraine mit seiner Ansage, die USA würden in keinem Fall mit eigenem Militär dem bedrohten Land zu Hilfe kommen, Putin geradezu eingeladen, jetzt loszuschlagen. Es spricht viel dafür dass Trump völlig Recht damit hat, dass unter einer Fortsetzung seiner Präsidentschaft das nicht passiert wäre.

Alles in allem erweist sich also auch diese Intervention des Herrn Martin als letztlich kompatibel mit den Prämissen jener Politik, der sie Leviten liest. Sie feiert Freiheitswillen und Republikanismus im europäischen Osten, ohne auch nur Notiz davon zu nehmen, wie durch den hiesigen auf Staatfrömmigkeit pochenden Politikbetrieb vor allem hierzulande die republikanische Freiheit im Namen eines ebenso kontur- wie grenzenlosen Kampfes „gegen Rechts“ untergepflügt wird. Und das erklärt dann auch einigermaßen, wie es geschehen konnte, dass man den Mann eingeladen hat, auf dem präsidialen Festakt zu sprechen – was allerdings nicht hindern sollte, seinem nichtsdestotrotz durchaus lehrreichen kleinen Vortrag Gehör zu schenken.

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Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

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