Rückendeckung der Linken für den Judenmord

Von Daniel Dockerill

Ende April ist im Jacobin-Magazin – nach seiner Selbsteinschätzung „eine führende Publikation der sozialistischen Linken“ – der Artikel eines u. a. in Jerusalem beheimateten Historikers namens Lee Mordechai erschienen, der Israel bezichtigt, an der Bevölkerung in Gaza einen Völkermord zu begehen. Dem Begehren, auf den hiesigen Seiten einen Verweis auf diesen Artikel zu posten, weil er „sehr informativ“ sei, kommen wir hiermit nach, um ihm entschieden zu widersprechen.

Was das „Informative“ angeht, so hapert es in dem Artikel schon daran ganz beträchtlich. Und dies nicht etwa, weil er keine oder zu wenig an „Information“ zu bieten hätte, sondern weil er mit dergleichen einen regelrecht erschlägt. Denn es dürfte – jedenfalls hierzulande und namentlich in dem publizistischen Milieu, das er bedient – sich kaum jemand finden, der den kritischen Aufwand bereit und gar imstande wäre aufzubringen, den der Text seinem ganzen Charakter nach dem seriösen Leser an sich abverlangte, und ich denke, das ist auch gar nicht die Intention des Artikels.

7 Seiten, DIN A4
Rückendeckung der Linken für den Judenmo
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Er wendet sich nicht an einen Leser, der die dargebotenen „Informationen“ sowohl im Einzelnen[1], wie in ihrem Kontext und auch auf das hin, worüber er schweigt, genauer prüft. Er soll vielmehr eine Stimmung erzeugen bzw. – dort, wo er uns dargeboten wird: bei Jacobin – diese bestätigen. Eine Stimmung, die im Dienste jener inzwischen ziemlich ausgeleierten und darum umso gängigeren, alles und jedes nivellierenden Botschaft steht, die jeder, der über ein wenig Kenntnis in der Sache verfügt und nicht völlig abgestumpft ist, wohl mit großem Befremden notieren wird und die da lautet:

„Die schrecklichen Ereignisse vom 7. Oktober – die selbst Teil des historischen Kontextes eines jahrhundertelangen Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern sind – haben den aktuellen Krieg ausgelöst.“

Allerdings ist es noch um einiges ärger, als es dieser eine, was den Schrecken angeht, der Israel jetzt heimsucht, seltsam teilnahmslos formulierte Satz nahelegt. Denn der Autor hat davor die „Ereignisse vom 7. Oktober“ pflichtschuldigst ja sehr wohl verurteilt, nennt sie „Gräueltaten“ sowie „Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, um sie erst unmittelbar anschließend in der Manier des UN-Generalsekretärs zum „Teil“ seines ganz speziellen „historischen Kontextes eines jahrhundertelangen Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern“ zu adeln.

Aus den „56 Jahren erdrückender Besatzung“ des Herrn Guterres, denen angeblich summarisch „das palästinensische Volk … unterworfen“ sei, obwohl ausgerechnet aus Gaza die Israelis bereits vor mittlerweile 18 Jahren komplett, einschließlich der in Israel sehr umkämpften Räumung ihrer dortigen Siedlungen, sich zurückgezogen hatten, werden bei Herrn Mordechai nun also höchst unbestimmte Jahrhunderte eines sogenannten „Konflikts“. Für den freilich interessiert sich – über das hinaus, dass er damit den Mordtaten der Hamas und ihres „zivilen“ Anhangs, allem Schrecken zum Trotz, einen „Kontext“ backen, sprich sie abhaken zu können glaubt – unser Historiker überhaupt nicht.

Dass es jene „Palästinenser“, die man heute so bezeichnet, vor hundert Jahren im heutigen Sinne noch gar nicht gab – die heute damit Bezeichneten bzw. ihre Vorfahren firmierten vielmehr gemeinhin als nicht näher spezifizierte Araber –, davon hat der Mann entweder keine Ahnung oder lügt sich und uns darüber die Hucke voll. Unter „Palästinensern“ verstand man vor hundert Jahren stattdessen diejenigen im damals vom Völkerbund den Briten anvertrauten Mandatsgebiet „Palästina“ lebenden Juden, die im Zuge des Zionismus sich daran gemacht hatten, für sich und ihresgleichen dort eine „nationale Heimstatt“ zu errichten. Dass die ebenfalls dort lebenden Araber dagegen sich selbst kaum als „Palästinenser“ ansahen, und von ihren arabischen Brüdern und Schwestern rund um dass Mandatsgebiet herum erstrecht nicht als solche angesehen und behandelt wurden, lässt sich gut am Ergebnis des Krieges von 1947 bis 1949 ablesen: Das von den auf arabischer Seite kriegführenden Mächten eroberte Terrain des vormaligen Mandatsgebiets schlugen diese jeweils sich selber zu. Ins­besondere Gaza wurde daher von Ägypten und das Westufer des Jordans sowie der Osten Jerusalems von Jordanien übernommen. Spätestens mit diesem 1949 in einem Waffenstillstand vorläufig besiegelten Kriegsergebnis gab es im Übrigen bereits einen Staat mit einer im heutigen Sinne speziell „palästinensischen“ Bevölkerungsmehrheit, nämlich Mehrheit arabisch-bäuerlicher oder -städtischer Bewohner des vormaligen „Palästina“, beiderseits des Jordans in Gestalt des Königreichs Jordanien.

Zudem aber und ganz abgesehen davon, dass es die eine Seite des „jahrhundertelangen Konflikts“ des Herrn Mordechai, nämlich Israel, noch nicht einmal hundert Jahre überhaupt gibt: Selbst wenn man den Beginn der zionistischen Einwanderung und Besiedelung, datierend vom Ende des 19. Jahrhundert, in die Rechnung mit einbezieht, kommt man auf allenfalls ein halbes weiteres Jahrhundert. In diesem Zeitraum wachsen die Bevölkerungszahlen sprunghaft jedoch erst seit den 1920er Jahren, also gerade einmal seit hundert Jahren. Und dies auf beiden Seiten des ominösen „Konflikts“: Einem Anwachsen der jüdischen Bevölkerung von 1922 84.000 auf 1945 554.000 steht im selben Zeitraum eine knappe Verdoppelung der arabischen von 668.000 auf 1,256 Millionen gegenüber.[2] Zahlen, die freilich für sich genommen keineswegs für einen „Konflikt“ zu sprechen scheinen, sondern eher für ein beiderseits gedeihliches Nebeneinander.

Woher gleichwohl der Konflikt in diese Entwicklung hineingekommen ist und worum er sich dreht, interessiert den Herrn Mordechai jedoch, wie gesagt, gar nicht. Dabei läge es an sich auf der Hand, einen auffälligen Gleichklang zumindest einmal zur Kenntnis zu nehmen: den hässlichen Gleichklang nämlich zwischen der im Judenmord sich stillenden Obsession der jetzt aus dem Gazastreifen ausgebrochenen Banden und jenem auf blanke Vernichtung versessenen Antisemitismus, der just zur selben Zeit, als unser „Konflikt“ in Palästina seinen Weg nahm, hier in Mitteleuropa zu einer wohlorganisierten Massenbewegung sich auszuwachsen begann, die dann schließlich im millionenfachen Judenmord kulminiert ist. Zumal dieser seinerzeit (folgt man Hannah Arendt) durchaus neue, auf nichts als Vernichtung getrimmte Antisemitismus bereits damals keineswegs beschränkt geblieben war auf Deutschland oder Europa, sondern insbesondere auch den Nahen Osten erfasst hatte, wo ihm in Gestalt der ägyptischen Moslembrüder zum Beispiel, von denen die Hamas abstammt, eine bis heute virulente Dependenz zugewachsen war. (Man muss da mittlerweile nicht dumm bleiben; es gibt reichlich fundierte Literatur dazu, wovon ich aus der la main das Büchlein „Djihad und Judenhaß“ von Matthias Küntzel[3] empfehlen kann.)

Es lohnt sich im Internet nachzuschauen, was der Autor ansonsten so macht. Die Princeton University in New Jersey, USA, wo er promoviert wurde und an der er jetzt (wie hier nachzulesen) „Associate Director of Princeton’s Climate Change and History Research Initiative“ ist, stellt ihn als Historiker vor, „der sich auf die Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen der byzantinischen Gesellschaft und ihrer Umwelt spezialisiert hat.“.[4] Mit seinem „jahrhundertelangen Kon­flikt“[5] war er nach allem, was sich in Erfahrung bringen lässt, als Historiker bislang dagegen niemals befasst.

Der Stoff, womit er professionell befasst ist, liegt um etliche Jahrhunderte weiter zurück. Sein spezieller Blick auf den „Konflikt“ ist daher weder von irgend professioneller Befassung damit getragen, noch formuliert er einen Standpunkt, der politisch relevant, wo auch immer des näheren, in Israel zu verorten wäre. Das dämonisiert der Text – unter Ausblendung jeglichen „Kontextes“, den er exklusiv der von ihm favorisierten Seite der „Palästinenser“ zugebilligt – vielmehr durchgehend. Statt eines wie auch immer spezifizierten israelischen ist sein Standpunkt also ganz offensichtlich der jener ordinär antikapitalistischen globalen Linken, in welcher der Autor – ungeachtet all seiner Profession – vor allem politisch unterwegs ist.

Seine professionelle Expertise sucht er dort unter anderem für das derzeit globallinke Lieblingsthema einer Rettung des vom Kapitalismus bedrohten Weltklimas nutzbar zu machen. Und auch bezüglich Coronas hat er mit dem Thema „Pandemien in historischer Zeit und heute“ eine Brücke zu seinem Expertenwissen geschlagen. Dazu gibt es seit Ende März 2020 sogar einen Podcast namens „infecti­ous historians“, den er mit seinem amerikanischen Kollegen Merle Eisenberg betreibt und in dem man sich nicht zu schade war, ganz jenseits seiner Expertise, noch ehe irgendein „Impfstoff“ genanntes Giftzeug gegen Covid zur Verfügung stand, alle potentielle Kritik der prospektierten Impfkampagne ganz im Sinne des linken Mainstreams mit dem gängigen Verdikt des Irrationalismus als Verschwörungstheorie zu labeln.

Es liegt auf der Hand, dass, wer – zumal als Israeli – in dieser Szene mitspielen möchte, derzeit nicht umhinkommt, in jenen Chor mit einzustimmen, der Israel des „Völkermords an den Palästinensern“ bezichtigt. Und um einen Schimmer von Glaubwürdigkeit bei denen zu behalten, denen in dieser Sache noch nicht alles Maß abhanden gekommen ist, schickt der Autor eine beschönigende Distanzierung von „Gräueltaten“ voraus, die „den aktuellen Krieg“ Israels nicht etwa begründen und erklären, sondern „ausgelöst“ hätten, begangen nicht etwa durch auf Judenblut versessene Mordbuben, vor denen, wäre er vor Ort gewesen, sein Eintreten für die Palästinenser ihn todsicher nicht gerettet hätte, sondern durch „militante Hamas-Kämpfer“.

Dass besagte „Gräueltaten“ Zeugnis davon geben, wie schrecklich lebendig der auf totale Vernichtung abzielende Antisemitismus, der 1945, wenngleich viel zu spät, besiegt schien, trotzallem heute noch oder wieder ist, darüber hüllt sich der Autor in beredtes Schweigen. Ein Schweigen, mit dem eine seriöse Erörterung der wirklichen Ziele Israels in diesem Krieg unter einem Trommelfeuer an „Informationen“ zugedeckt und durch einesteils dunkel raunendes andernteils regelrecht die Dinge verzerrendes Geschwätz ersetzt wird.

„Eines der Ziele des Krieges ist nach Angaben der israelischen Regierung die Befreiung der Geiseln“, schreibt er und legt nahe, dass die „Angaben“ bloß vorgeschützt seien, um das eigentliche Ziel eines Genozids an der Bevölkerung in Gaza zu tarnen. Einmal mehr verschweigt er damit ein ganz wesentliches anderes Kriegsziel Israels: die Entwaffnung der Hamas und die Zerstörung ihrer ganz und gar und völlig unheimlich auf den Judenmord zugeschnittenen Infrastruktur in Gaza. In diesem Ziel aber, das er vorsichtshalber gar nicht erst thematisiert, ist die „israelische Gesellschaft“, die, wie er schreibt, „in der Frage nach den Geiseln gespalten“ sei, nichtsdestotrotz – soviel lässt sein Text immerhin durchblicken – sich ziemlich einig: „Meine Position teilt nur eine winzige Minderheit“. Das allerdings kann eigentlich nicht erstaunen, ist doch seine die Position der Geiselnehmer: den Fortbestand der Herrschaft der Hamas in Gaza mit der Aussicht auf Freilassung von Geiseln zu erpressen.

 

*

Es ist zweifellos richtig: Das Ja oder Nein zur Existenz Israels ist die Gretchenfrage. Aber schon in solch eigenartiger Exklusivität des Umgangs mit dem schlichten Dasein des Staates der Juden verrät sich ein tiefsitzendes Ressentiment. Es dürfte sich jedenfalls kaum ein zweiter Staat auf Erden mit einem solchen mittlerweile über drei Generationen bzw. ein Menschenalter anhaltenden Rückhalt in seiner Bevölkerung finden, der noch heute überall in der Welt auf ein dermaßen verbreitetes Verlangen stößt, er müsse überhaupt zu existieren aufhören, von der Landkarte verschwinden. Bei aller Verdammung des Kolonialismus von Ländern wie Großbritannien oder Frankreich beispielsweise war meines Wissens niemals jemand auf die Idee gekommen, deren schiere Existenz auch nur theoretisch zur Disposition zu stellen oder der Frage danach einen politischen Stellenwert zuzumessen.

Was indes die im weitesteten Sinne selbst so sich definierende Linke betrifft, verdankt sich jenes Ressentiment – gleichgültig, ob es sich ganz generell gegen einen Staat der Juden in Palästina richtet oder, einhergehend mit dem wohlfeilen Bekenntnis zu dessen „Existenzrecht“, „nur“ gegen das jeweils konkrete Handeln seiner Regierung – einer hartnäckig rumorenden Verdrängung: der dumpf-grummelnden, weil uneingestandenen Ahnung nämlich, dass in dem bei aller Effektivität notorisch unzulänglichen und oft mit vielerlei abscheulichen Konsequenzen verknüpften Agieren der Organe dieses Staates zur Sicherung seines Daseins die erbärmliche Physiognomie eben der Linken selbst sie anblickt. Einer Linken, die zum Museumswärter jener „Traditionen der Demokratie und des Sozialismus“[6] verkommen ist, deren Verfechter so katastrophal dereinst versagt haben, als es, etwa bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts, eine weichenstellende Zeitlang wirklich auf sie angekommen war. Nach diesem eigenen Totalausfall nimmt man links den Israelis es seither übel, dass sie, statt trotz alledem tapfer voran zu irgendeinem Sozialismus (und sei es wieder in einem Land) zu marschieren, in dieser unserer und ihrer Welt, so schlecht, so böse und grausam wie sie leider nun einmal ist, lieber bis an die Zähne wehrhaft sich als jenes Volk eingerichtet haben, als welches spätestens die Shoa über alle Klassen und Schichten und auch ethnisch sehr verschiedene Prägungen hinweg sie unentrinnbar gemeinsam markiert hat.

Ein Zyniker, wer aus dem Umstand, dass ihnen das bis heute so erstaunlich gut gelungen ist, wer also etwa aus dem krassen Missverhältnis der militärischen Mittel Israels hier und „der Palästinenser“ dort auf ein Unrecht Israels schließen wollte. Denn sogar für alle, die bislang es nicht begreifen wollten oder konnten, braucht es spätestens seit dem 7. Oktober 2023 keinerlei Phantasie mehr sich vorzustellen, was den Israelis blühte (und letztlich auch dem Westen insgesamt), wenn es anders wäre. Und dass die Zahl der Toten hier und dort (für die es größtenteils nur höchst unzuverlässige, zweifelhafte Quellen gibt) in keinem ausgeglichenen Verhältnis zueinander stehen, auf welch seltsame, um nicht zu sagen perverse Moral wollte ein Verweis darauf eigentlich hinaus?

Prof. Mordechai findet „Israels Reaktion auf den 7. Oktober … absolut unverhältnismäßig“, ohne zu verraten, was genau er für dieses Urteil denn miteinander ins Missverhältnis gesetzt sieht, und für seine Opferzahlen nennt er ausgerechnet „das Gesundheitssystem des Gazastreifens“, das – jedenfalls bis zum Beginn des Krieges – völlig von der Hamas kontrolliert wird, allen Ernstes „die einzige unabhängige Quelle“. Der Mann ist also nicht nur offensichtlich, sondern auch ziemlich blauäugig Partei in seinem „Konflikt“, und „er ergreift“, wie es in einem mir zugegangenen Kommentar zu seinem Text richtig heißt, in der Tat „eindeutig Stellung gegen Israel“. Und ja: „diese Meinung kann er natürlich vertreten“. Ganz ebenso, wie man zur Zeit der Pariser Kommune auch die Meinung vertreten konnte und vertreten hat, dass in Paris eine Verbrecherbande die Macht an sich gerissen und den Pöbel gegen die braven Bürger losgelassen hat. Denn schon damals gab es auch für „diese Meinung“ sicher genügend an Informationen, und ließ sich das entsprechend eingestimmte Publikum jede Menge gruselige Geschichten dazu erzählen, die auch keineswegs alle erstunken und erlogen gewesen waren.

Es ist hier wie so oft: Das Ganze ist nicht nur überhaupt mehr als die Addition seiner Teile, es strukturiert diese, weist ihnen ihren Platz an und verleiht ihnen ihr Gewicht. Bei allen „Beweisen“, die Herr Mordechai „stark darauf hin“ deutet, „dass eines der Ziele des Staates Israel darin besteht, den Gazastreifen teilweise oder ganz ethnisch zu säubern“, wäre doch zuvorderst zu fragen, was denn diese Deutung in diesem oder jenem „Kontext“ bedeutet. Um was für eine „Ethnie“ beispielsweise, von welcher ggf. Gaza „gesäubert“ würde, könnte es sich überhaupt handeln? Bzw. welchen Sinn hätte der Begriff des Ethnischen im Falle eines Israel, dessen jüdische Mehrheitsbevölkerung zu einem großen Teil aus aller Herren Länder stammt, nicht wenige aus orientalischen oder afrikanischen, und das außerdem eine etwa zwanzig-prozentige arabische Minderheit beheimatet, die wiederum neben einer moslemischen Mehrheit auch z. B. etliche arabische Christen und Drusen umfasst?

Wovon Gaza zu säubern Israel nach dem 7. Oktober allerdings regelrecht genötigt ist, das ist der Islamismus einer sehr beträchtlichen Menge der Bevölkerung von Gaza; ein Islamismus, der sie ganz unverhohlen und offenbar leider sehr erfolgreich eingeschworen hat auf die wahllose Ermordung von Juden bzw. Menschen welcher ethnischen Herkunft auch immer, die sie dafür hält, so sie Gelegenheit dazu hat; sowie komplementär dazu passend aufs eigene, derzeit besonders exzessiv zelebrierte Märtyrertum. In dieser Säuberung besteht daher zweifellos jetzt tatsächlich nicht nur „eines“, sondern das wichtigste „der Ziele des Staates Israel“, von dem er nicht abrücken kann, ohne seine raison d’etre aufs Spiel zu setzen.

Darin ausgerechnet eine „ethnische“ Säuberung zu erkennen, bedarf es freilich eines sehr speziellen Faibles fürs sogenannte Ethnische. Aber womöglich erweist sich dessen Beschwörung eines offenbar sehr blutrünstigen palästinensischen Volkstums fatalerweise diesmal als besonders realistisch. Vielleicht ist besagter Islamismus ja inzwischen einer Mehrheit der Bevölkerung dermaßen in Fleisch und Blut eingegangen, dass er nur noch durch ihre Eliminierung oder Vertreibung aus Gaza zu besiegen wäre (was womöglich erklärt, warum alle Welt zur Rettung der Palästinenser einen Waffenstillstand, aber niemand selbst unter den Unterstützern Israels das an sich am nächsten Liegende, die Kapitulation der Hamas verlangt). Mag also sein, dass Israels Versuch, die Hamas vollständig zu entwaffnen und aller organisierten Einwirkungsmöglichkeiten auf die übrige Bevölkerung dauerhaft zu berauben, allzu optimistisch ist. Bislang scheint die Regierung aber an ihrem Optimismus festzuhalten, wofür nicht zuletzt die sich hinziehende Länge des Krieges spricht, die es für einen ernsthaften Genozid ganz sicher nicht bräuchte.

Wie gesagt, Herr Mordechai ist mit dem hier in Rede stehenden Text weder als Historiker noch als eine – was das politische Spektrum Israels angeht – relevante Stimme aus diesem Land unterwegs, sondern als Propagandist der Feinde Israels. Als ein solcher steht er freilich auch in Israel keineswegs allein da. Israel besitzt eine politische Streitkultur, die nicht nur in seinem näheren Umfeld arabischer Staaten einzig dasteht, sondern auch ansonsten in der Welt ihresgleichen sucht. Und es leistet sich eine große Tageszeitung, in der solche und ähnliche Stimmen nahezu regelmäßig auch jetzt im Krieg zu Wort kommen. Eine andere dieser Stimmen war kurz nach dem 7. Oktober in der jungen Welt mit einem offenen Brief zitiert worden, worin sie den deutschen Kanzler aufgefordert hatte, seine angeblich „vorbehaltlose Unterstützung“ Israels zu unterlassen und dessen „Kampagne des Todes und der Zerstörung zu stoppen“.[7]

Erst in noch jüngerer Zeit lässt indes die eine oder andere solcher Stimmen eines rabiaten, nur allzu verständlicherweise in Israel, wie ja auch Herr Mordechai einräumt, äußerst randständigen Antizionismus’ gewisse Irritationen erkennen. Von dergleichen zeigt sich der vorliegende Text jedoch ganz unberührt, was sicher auch damit zu tun hat, dass er sich nicht an ein israelisches, sondern an ein amerikanisches bzw. deutsches Publikum mit internationalistischen Ambitionen wendet. Denn dort, wie überall in der aufs Globale und seine Rettung abonnierten Linken, ist diese Parteinahme gegen Israel nun einmal seit langem hegemonial; eine Parteinahme, die sich, wie wir hier sehen, auch dadurch nicht beirren lässt, dass sie sich im Schulterschluss mit jenen wiederfindet, die ganz ungeschminkt die Fortsetzung und Vollendung des Mordprogramms des Nationalsozialismus verkünden und deren Taten keine Zweifel daran erlauben, wie ernst sie es damit meinen.

Der Antizionismus dieser global umtriebigen Linken aber, die, statt auf universelles Glück, auf eine unendliche, niemals erreichbare Gerechtigkeit und eine gegen Tyrannei und Pogrom grenzenlose Weltoffenheit pocht, ist derzeit in seiner Wirkung viel schlimmer als die Hamas mit ihrem Mordpro­gramm. Denn er zielt darauf, Israel dagegen zu entwaffnen und damit den einzigen Unterschied der heutigen Lage der Juden in der Welt zu derjenigen zu kassieren, welche das entsetzliche Ausmaß der Shoa seinerzeit erst ermöglicht hat.

 

*

Um jedoch endlich von dem zu sprechen, was unsereins als so ziemlich allerletzte Verfechter eines Marx verpflichteten proletarischen Kommunismus – der, weil ohne Anzeichen wenigstens von Restbeständen seiner einstigen Geschichtsmächtigkeit, zusehends esoterischer anmutet – unmittelbar angeht: Mir jedenfalls wurde bereits während des Corona-Zirkus unsere (meine) früher einmal durchaus zeitweilig sogar sehr enge Nähe zu solchen Haufen ausgesprochen peinlich wie der Antikapitalistischen Linken, der SAV, dem hauptsächlich von der ISO (mit dem unsäglichen Hermann Dierkes) bespielten, mittlerweile verdientermaßen eingegangen SALZ oder der Gruppe mit dem unaus­sprechlichen Namen „ArbeiterInnenmacht“[8]. Wie aber nach dem 7. Oktober dort, und zwar ziemlich gleichtönend, mit der Glorifizierung des palästinensischen sogenannten „Widerstands“, dessen um den Judenmord zentrierte Agenda die Charta der Hamas ja nur besonders schnörkellos ausspricht, ungerührt weitergemacht wird, das ist nur noch widerlich und verlangte, wäre da jemand satisfaktionsfähig, spätestens jetzt seine Markierung als Feind.

Auch Marx oder ungedeckte Bekenntnisse zum Klassenkampf ergeben hier keine Klammer mehr, womit irgendwelche gemeinsamen Grundüberzeugungen bezeichnet wären. Wenn der Arbeiter „Innenmacht“ jenen „Widerstand“ ganz ausdrücklich „trotz dessen reaktionärer politischer Führung unter­stützt“, bringt sie nur auf den Punkt, worauf andere aus diesem Marx zu ihrem Ismus verstümmelnden Pack von Arbeiterfreunden in ihrer verdrucksten Rhetorik auch hinauswollen: Reaktionär hin oder her – der „Widerstand“ gegen Israel gehört „unterstützt“, und wenn dabei Juden über die Klinge springen, ist das zwar nicht immer schön (manchmal schon), aber („Kontext, Kontext!“) immerhin verständlich, denn der jüdische Staat, der Staat der Juden muss weg. Und zwar noch ehe alle anderen Staaten dieser Erde verschwunden sind, gemahnt doch sein durchaus als Anachronismus zu begreifendes Dasein in ganz besonderer Weise daran, wie sehr man selber seit langem aus der Zeit gefallen ist.

Wenn die Zeiten nicht so bedrohlich wären, hätte es wohl eine makabre, tiefschwarze Komik, wie dieser übriggebliebene, nurmehr simulierte, mit Versatzstücken seiner geschichtlichen Vergangenheit aus Pappmaschee hantierende Kommunismus unserer trostlosen Gegenwart es sich angelegen sein lässt, den Israelis zu empfehlen, sich einem „säkulare[n], demokratische[n], sozialistische[n] Palästina“ anzuvertrauen oder auch einer Föderation „zweier sozialistischer Staaten mit einer gemeinsame Hauptstadt in Jerusalem/Al-Quds“, nachdem selbst der vergangene, immerhin noch durchaus geschichtsmächtige Kommunismus es nicht vermocht hat, die Juden vor der Shoa zu bewahren.

Denn die Wahrheit ist: Was in der Shoa aufs Scheußlichste sich manifestiert und daher mit ihr unauflöslich verquickt hat, das ist das – jedenfalls bis auf weiteres – definitive Scheitern des Kommunismus, resp. der proletarischen Weltrevolution; desjenigen, womit allein auch die sogenannte „Judenfrage“, d. h. die Antisemitenfrage wahrscheinlich sich erledigt gehabt hätte. Seither ist daher alles, was einmal „unterm Aspekt des Proletariats zu sehen“ war, wie sehr früh, kaum dass die Shoa ihr grausiges Werk der „Endlösung“ begonnen hatte, nämlich bereits im August 1940, Adorno in einem Brief an Max Horkheimer vorsichtig noch mutmaßte, schließlich tatsächlich und unverrückbar „in furchtbarer Konzentration auf die Juden übergegangen.“[9]

Aber es gibt Momente, worin dieses vom einstigen, wahrhaft noch revolutionären Kommunismus des Proletariats schließlich auf Israels Gegenwart „Übergegangene“ sich bemerkbar macht oder jedenfalls der Reflexion durchaus zugänglich wäre:

So wenig nämlich beispielsweise der Charakter der Pariser Kommune von 1871 daran zu messen war, welche Maßnahmen zur Einführung des Sozialismus sie ergriffen hat, wofür sie auch im Falle ihres Sieges halt nur einen solchen politischen Rahmen hätte abgeben können, in welchem der Kampf der Klassen um dieses Ziel und den Weg dahin „auf rationellste und humanste Weise“ (MEW 17, S. 546) auszutragen gewesen wäre, so verfehlt wäre es heute, Israel etwa nach den Produktionsverhältnissen zu beurteilen, die dort vorherrschen. Was beide miteinander vielmehr gemein haben, ist ihr dezidiert auf politische Selbständigkeit zielender Charakter; ist der Versuch erniedrigter und der Fuchtel fremder Gewalten auf Gnade oder Ungnade ausgelieferter Subalterner, diese Fuchtel zu beseitigen und durch ein allein von ihnen selbst bestimmtes politisches Gemeinwesen zu ersetzen, worin sie sich den Raum verschaffen, auf zivilisierteste Weise ihre Emanzipation zu erstreiten. Denn auch Israel ist zu bestimmen als die gemeinsame Anstrengung der dort lebenden Juden, „auf rationellste und humanste Weise“ in jener Welt zu bestehen, die in ihrer Erniedrigung und Verfolgung schließlich bis zum Äußersten, bis zu ihrer gnadenlos ungerührten Vernichtung gegangen war, ohne dass ihnen jemand zu Hilfe gekommen wäre. Auch auf die Juden und heute vielleicht mehr als auf irgendjemand anderen trifft daher die Einsicht zu, dass ihre Befreiung ihre eigene Tat sein muss. Und nichts bringt nicht nur die Feinde der Juden heftiger in Rage, sondern erzeugt auch immer wieder neue Feinde unter ihren Mitmenschen, als erleben zu müssen, wie diese Einsicht als Staat Israel zur materiellen Gewalt geworden ist.

Aber sogar in der Rede der Falschmünzer des Schwindelkommunismus, man habe „bedingungslos auf Seiten der Unterdrückten“ des geifernd gegen Israel zu Felde ziehenden „globalen Südens“ zu stehen (wo die Nachfahren der Sklaven oder für die Sklavenhaltung Gejagten mit denen der Sklavenjäger und auch mit heutigen Sklavenhaltern, gegen die zusammengehen, bei denen die Sklaverei definitiv abgeschafft ist), blitzt auf verdrehte Weise eine Wahrheit jegliches noch aufrichtigen, seiner traurigen Esoterik im Hier und Jetzt jedenfalls sich sehr bewussten Kommunismus auf: Einen Weg zurück zu geschicht­licher Wirksamkeit gibt es, wenn überhaupt, für ihn nur in bedingungsloser Parteilichkeit für Israel, den Geächteten unter den Staaten, weil Staat der Geächteten.


[1] Ein beträchtlicher Teil der verlinkten Quellen ist in Hebräisch, die zu verstehen dem in der Sprache Unkundigen auch DeepL leider nicht hilft.

[2] Wolffsohn, Bokovoy: Israel. Geschichte, Politik, Gesellschaft Wirtschaft, [Leske + Budrich] Opladen 2003, S. 300.

[3] Freiburg [ça ira] 2002.

[5] im englischen Original heißt es indes bezüglich des Konflikts „century-long conflict“, also nicht „centuries-long“; der besonders peinliche, hier von mir monierte Lapsus geht also wohl auf die Kappe der Übersetzung für die deutsche Ausgabe, was allerdings auch einiges über den Charakter dieses ausdrücklich einem „linken Mainstream“ verpflichteten Magazins verrät.

[6] Siehe die Präambel des Programms der Partei Die Linke.

[8] Als sie noch „Arbeitermacht“ hieß, haben die „übergänge“ mit ihr und anderen Ende der 90er in einer Reihe von Treffen die „Debatte um ein neues kommunistisches Programm“ geführt.

[9] Brief v. 5.8.1940, hier zitiert nach MXKS: Zum Problemkreis des Antisemitismus.

 

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Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

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