Das neue Deutschland mischte den Westen nach 1989 bis 1995 mit verschiedensten Vorstößen ganz schön auf.
Die vorstehend behandelten Etappen deutscher Außenpolitik waren ein regelrechter Amoklauf auf dem diplomatischen Weltparkett:
Annexion der DDR durch einen Überraschungscoup à la tête mit der UdSSR
Politisch-ökonomischer Vorstoß in die am Boden liegenden Staaten Mitteleuropas
Der Griff nach dem Balkan mit der Anerkennung Kroatien und Sloweniens
Appeasement-Politik gegenüber Irak im Golfkrieg II
Durchsetzung seines tiefen europäischen Integrationskurses im EU-Vertrag von Maastricht 1992 – dies brachte nicht nur das labile westeuropäische Gleichgewicht der EWG zu Fall, sondern ließ Deutschland machtstrategisch auf Grundlage seines starken nationalen Gesamtkapitals zum endgültigen politischen Hegemon der zur EU fortgeschriebenen EG werden.
Den genannten Zeitraum über Vorpreschen bezüglich vier Eckpunkten des Ausbaus seiner angemeldeten Weltmachtrolle:
Ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat samt Vetorecht
Bestätigung weltweiter Einsätze der Bundeswehr durch das Bundesverfassungsgericht
Mit-Verfügung über Atomwaffen und Aktivierung der WEU als militärbündnispolitischen Arm der EU
Durchsetzen einer „neuen“ NATO P4P
Das abschließend kurz umrissene politisch-ökonomische Umfeld der damaligen EG verdeutlicht die entscheidende Weichenstellung in jenem Zeitraum für die jetzige deutsche Hegemonie in „Europa“:
Obige diplomatischen außenpolitischen Offensiven des neuen Deutschlands waren ökonomisch unterlegt:
Deutschlands erkleckliche Erweiterung seines nationalen Binnenmarkts um 17 Mill. staatlich alimentierte Konsumenten.
Ausdehnung seines nationalen Gesamtkapitals durch Kaperung des DDR-Volksvermögens mittels installierter Treuhandanstalt.
Gleichzeitiger umfassender ökonomischer Vorstoß ins faktische ökonomische Vakuum der mitteleuropäischen Pleite-Staaten als „natürlichen“ deutschem Hinterhof.
Sofortige Übernahme der alten DDR-Handelskanäle zur Ausdehnung der westdeutschen Exporte bis nach Russland unter Garantie von Hermesbürgschaften.
Dies alles zusammen bewahrte die BRD vor einer Rezession in der zyklischen industriellen Überproduktionskrise des Weltmarkts nach 1990.
Das Europäische-Währungs-System (EWS) als das Vorläufersystem der Euro-Währungsunion kam in der Überproduktionskrise des Weltmarkts nach 1990 und mit Deutschlands Sprung nach vorne und dem damit verbundenen relativen Gewichtsverlust der anderen EWS-Nationen 1990 in eine Krise bis zum Rand des Zusammenbruchs. Deutschlands rasant gesteigerte Kreditnachfrage1 zur Finanzierung der „Wiedervereinigung“ trieb die Zinsen für Staatspapiere in ganz Europa.
Die Spekulation des Geldkapitals warf sich in vorher unbekanntem Ausmaß auf den Devisenmarkt. Die Wetten gegen das britische Pfund trieben den britischen Zinssatz bis September 1992 auf über 12%, Interventionen der englischen Notenbank sowie der anderen EWS-Notenbanken zur Stützung der Wechselkurse verpufften ohne Wirkung, das englische Pfund fiel weit unter den gegebenen unteren Interventionspunkt. England schied aus dem EWS aus, das britische Pfund verlor 15% gegenüber der DM und 20% gegenüber dem US-$.
Die schmale Wechselkursbreite der am EWS beteiligten Staaten von insgesamt 5% forderte die Spekulation gegen die Währungen von Ländern, deren Konkurrenzfähigkeit in Relation zu den anderen nachließ, geradezu heraus und setzte auf deren Abwertung, welche aber zugleich gemäß der Vereinbarungen des EWS durch Interventionen von den Notenbanken verhindert werden sollten.
Solche nicht einschätzbaren Zeitspannen zwischen den aus den nationalökonomischen Kennzahlen-Bündeln früh heraus lesbaren Tendenzänderungen oder gar Wendepunkten in den wirklichen Konkurrenzverhältnissen der nationalen Gesamtkapitale und dem entschiedenen Handeln der ökonomischen und politischen Akteure sind gefundenes Fressen für Spekulation – die sogenannte Euro-Krise belegt dies seit 2011 plastisch. Der Spekulationsdruck auf das EWS nahm bis 1993 so zu, – neben Großbritannien insbesondere gegen Italien aber auch befördert durch die auftauchenden Zweifel, ob die BRD die paar Billionen DM der DDR-Annexionskosten schultern könne – dass das EWS die Wechselkursbandbreite auf den Gesamtspielraum von sage und schreibe 30% erweitern musste. Der Kurs der italienischen Lira – die 1981 um 6% abgewertet hatte bei 20% Inflationsrate in Italien – fiel gegenüber Franc und Mark im Zeitraum 1992-1995 um über 40%, gegenüber dem Dollar um 30%, gegenüber dem Pfund um 20%.
Diese Phase ging in den betroffenen Ländern einher mit starker Austeritäts-Politik zu Lasten der lohnabhängigen Klasse und mit deren von den Gewerkschaften ausgebremsten heftigen Gegenwehr. Frankreich wurde im Dezember 1995/ Januar 1996 durch Massenstreiks des öffentlichen Sektors regelrecht lahmgelegt. Immerhin konnte die Rentenreform temporär blockiert werden. Überall ging es wie heute auch permanent um konterrevolutionäre Reformen des Arbeitsmarkts, der Altersversorgung, des Gesundheits- und Bildungssystems zur Senkung des historisch erkämpften Wertes der Ware Arbeitskraft. „Natürlich“ geht es stets um die Erhöhung der nationalen „Wettbewerbsfähigkeit“ – wie es die absolute Gottheit: das Kapital – scheinbar für alle Ewigkeit fordert. Amen.
Was den Klassenkampf in Deutschland in diesem Zeitraum betrifft, so war die Bourgeoisie mit dem „Anspruchsdenken“ ihres Arbeitspöbels im Inneren genau so ungeduldig wie nach Außen bezüglich der GASVP der störrischen EU-“Partner“. Ihr politisches und geschäftsführendes Personal pöbelte heftig im zunehmenden Klassenkampf von oben. Kohl nahm 1993 in einer Regierungserklärung die Keule des „Freizeitparks Deutschland“ aus der Klassenkampf-Kiste-von-oben. Sie hatten inzwischen die ehemalige DDR-Betriebslandschaft „treuhänderisch“ zu unkraut-blühenden Industrieruinen für einen echten „Freizeitpark“ zugerichtet. Aus den DDR-Staatsangestellten war eine Wanderarbeiter- und Pendlerarmee geworden, die den Westen lohndrückerisch aufrollte. Der amtierende BDI-Chef Tyl Necker meinte 1994, dass nun auch die Westler bald reif seien – wofür wohl? Das schwäbische Cleverle Späth verkündete, nachdem er das industrielle und wissenschaftliche DDR-Kronjuwel C.Z. in Jena von der zweidrittel Last seiner Malocher „saniert“ hatte, dass die Westdeutschen nicht Mals ahnten, was auf sie zu kommt. IG-Metall-Chef Zwickel initiierte dann 1995 das „Bündnis für Arbeit“. Hiermit gewann die Austeritätspolitik in der BRD dann gewerkschafts-flankiert-geordnet mit aufeinander folgenden „Sparpaketen“ an Dynamik. Das fand mit Gerhards Hartz IV Coup á la tête 2003 seinen vorläufigen Höhepunkt. Todsicher wird Angela die Agenda 2010 zur Agenda 2020 fortschreiben müssen. Damals wie heute ging der deutschen Bourgeoisie selbstredend "alles" viel zu langsam mit dem Abbau des „Freizeitparks“ Deutschland. Um die damalige Ungeduld der Bourgeoisie und ihres geschäftsführenden Personals und die einhergehende bis heute laufende entwürdigende Hetze gegen das „Anspruchsdenken“ und die „Stillstandsrepublik“ verlaufsmäßig zu reflektieren, lohnt es sich nochmals das Gegeifere des Es-muss-ein-Ruck-durch-Deutschland-gehn-Präsidenten Roman Herzog von 1997 zu Gemüte zu führen.2
Das EWS war wie die Euro-Währungsunion heute das Züchtigungsinstrument der EWG von 1979 an bis 1992 und danach der EU fürs Proletariat, um die EWG/EU-Staaten unter gegenseitigen Wettbewerbsdruck zu setzen. Nach Schäubles Formulierung eben „der harte politische Kern“ von Kerneuropa – nach der Unterzeichnung umfangreicher Vertragswerke als EU nur mit mehr politischem Nachdruck aus Berlin unter ständigem Gezeter über „ausufernde“ Defizite und andere schlimme Dinge. Die Stellschraube Austerität wirkt relativ kurzfristig, um die „Wettbewerbsfähigkeit“ der Nationen zu erhöhen. Dies setzt eine nie endende Spirale zunehmender Konkurrenz der Nationalstaaten in Gang. Dagegen wirkt die Stellschraube Bildung, Forschung, Technologieinnovation mit dem Ziel der Industrieansiedlung – wenn überhaupt – nur mittel- bis langfristig.
Auf dem Hintergrund vorstehender umfassender deutscher außenpolitischer Offensive auf Basis ökonomischer Vorherrschaft in der EU muss das vorne mehrmals angesprochene Schäuble-Lamers-Papier von 1994 zu Kerneuropa als drohende politische Handlungsanweisung an das ökonomisch niedergerungene Frankreich gelesen werden.
Die medial inszenierte euphorische „Stimmung“ angesichts erträumter Profite nach 1989 stärkte den Willen der deutschen Bourgeoisie, die neue ökonomische Vorherrschaft Deutschlands in der EU „selbstbewusst“ politisch umzumünzen.
Auf dem Hintergrund dieser Husarenstreiche muss die vorne skizzierte dreigliedrige Initiation der neuen deutschen Volksgemeinschaft aus der Wirkmächtigkeit der deutschen Außenpolitik auf Grundlage des Zugewinns an Stärke des nationalen Gesamtkapitals erklärt werden und zugleich als medial wohlwollend dynamisierte Stärkung des nationalen Gesamtkapitals durch das neu-deutsche Völkchen. In die Geschichte der BRD gehen sie ein als vier scheinbar erfolgreiche Jahre deutscher Außenpolitik des von Kohl versprochenen Ausbaus der deutschen Weltmachtrolle. Tatsächlich erwiesen sie sich übergreifend als Pyrrhussiege. Die meisten der aufgelisteten Erfolge der deutschen Außenpolitik waren Ausdruck ohnmächtiger Appeasement-Politik der Westmächte gegenüber Deutschland zwischen 1989 und 1994. Dass Deutschland Weltmeister in Appeasement-Politik ist, ist seit dem Münchener Abkommen von 1938 aktenkundig. Deutschland war bei seinen Vorstößen zur Großmachtpolitik nach 1989 praktisch zur „Politik der freien Hand“ von Bismarck und Wilhelm II. zurückgekehrt. Das bedeutet, dass es zwar formal in Bündnissen eingebunden ist und trotzdem außenpolitisch seinen Stiefel reitet ohne Rücksicht auf seine Verbündete.
In Teil II des Textes geht es dann um den Weg des Ausbaus der deutschen Vormachtstellung in Europa nach 1945 unter der übergreifenden Nachzeichnung der Kontinuitätslinien deutscher Neuordnungskonzepte „Europas“. Es wird sich zeigen, dass sich an den Grundlinien der deutschen Neuordnungsvorstellungen für Europa nach 1945 inhaltlich nichts Wesentliches geändert hat. Allerdings hat sich Deutschland beim jetzigen dritten Anlauf der tiefen zentralistischen Integration der europäischen Nationalstaaten bisher ohne die Gefahr eines heißen Krieges durchsetzen können.
1 In nachstehendem PDF sind sämtliche deutsche Staatsanleihen von 1986 bis 2010 gelistet. Die staatliche Kreditaufnahme zu hohen Zinsen (auch für Bahn und Post) explodierte nach 1989 geradezu, siehe: Ausstattung der umlaufenden Bundesanleihen (Bund, Sondervermögen, Treuhandanstalt) http://www.deutsche-finanzagentur.de/fileadmin/Material_Deutsche_Finanzagentur/Handmappe/2011_05/E_6.pdf
2 Berliner Rede 1997 von Bundespräsident Roman Herzog, "Aufbruch ins 21. Jahrhundert" Hotel Adlon, Berlin, 26. April 1997