24. Vom Ausnahmezustand zur nationalen Normalität

Der Erfolg der vorstehend skizzierten deutschen außenpolitischen Vorstöße 1989 bis 1992 – Anschluss der DDR, Protektion der Sezession Kroatiens und Sloweniens, Appeasement im Golfkrieg II sowie die (in Teil II zu skizzierende) Durchsetzung seiner Bedingungen im Maastricht-Vertrag – stärkte die machtstrategischen, selbstformulierten Ansprüche der neuen Berliner Republik auf eine Weltmachtrolle. Berlin ging sie parallel an vier Fronten der Innen- und Außenpolitik an:

  • Anmeldung des Anspruchs auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat samt Veto-Recht
  • Absegnung von weltweiten militärischen Einsätzen der Bundeswehr durch das Bundesverfassungsgericht

  • Versuch, die WEU als militärischen Arm der EU zu etablieren samt der Spekulation, hierüber an die Verfügung über Atomwaffen zu gelangen

  • Schwächung der NATO in Europa durch ihre Ausdehnung nach Mitteleuropa

Deutschlands außenpolitisches Agieren seit der Jugoslawienkrise brauchte nach 1992 einen neuen Vormann auf dem diplomatischen Parkett. Der behutsame multilaterale Genscherismus der EWG-Ära der geheuchelten westlichen Einbindung der BRD zwischen 1970 und 1989 war unberechenbaren Alleingängen des neuen Deutschlands gewichen. Der nationalliberale Genscher, für den die Sozialdemokraten selbst nach ihrem Godesberger Programm noch vaterlandslose Gesellen waren, konnte seinen alten diplomatischen Partnern auf EU- und Weltmarktparkett nicht mehr multilaterale Glaubwürdigkeit säuselnd unter die Augen treten. Mit Kinkel, einst Genschers zweite Hand und zeitweise unter rot-gelb BND-Chef, wurde im Mai 1992 eine unverbrauchte bürokratische Kraft vom geheimdienstlichen Bock zum Gärtner des diplomatischen Parketts erkoren.

 

Kein Jahr später formulierte Kinkel den neuen außenpolitischen Kurs Deutschlands in einem Grundsatzartikel des Zentralorgans:

 

Zwei Aufgaben gilt es parallel zu meistern: Im Inneren müssen wir wieder zu einem Volk werden, nach außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: Im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potenzial entspricht. Die Rückkehr zur Normalität im Inneren wie nach außen entspricht einem tiefen Wunsch unserer Bevölkerung seit Kriegsende. Sie ist jetzt auch notwendig, wenn wir in der Völkergemeinschaft respektiert bleiben wollen. […] Unsere Bürger haben begriffen, dass die Zeit des Ausnahmezustandes vorbei ist.1

 

Da klingelten bei allen europäischen Nachbarn die Alarmglocken impliziter deutscher Drohungen: Bis 1945 herrschte demnach Normalität in Deutschland? Kehrt Deutschland zur machtpolitischen „Normalität“ zurück, die „unseren Wünschen und unserem Potential entspricht“? Was angeblich dem „tiefen Wunsch unserer Bevölkerung“ entspricht! Dann haben die „Partner“ wohl noch einiges zu erwarten. Waren die zwei militärischen Versuche der Neuordnung Europas also eigentlich nur am „Einklang“ mit den Nachbarn gescheitert? Wie dies diesmal im „Einklang“ durchgesetzt wird, erlebt Europa gegenwärtig. Die alte BRD war demnach nicht nur ein Provisorium, sondern in den Augen der Berliner Republik der Ausnahmezustand – im Kampf der Nationen um den Weltmarkt!

 

24.1. Zum bisher vergeblichen Kampf um einen ständigen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat.

 

Eine politische Weltmachtrolle ist seit 1945 bis heute und auf weiteres ohne einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat einschließlich Veto-Recht substanzloses Wunschdenken. Der Zusammenbruch des Warschauer Paktes, der Aufstieg Japans und Deutschlands und weiterer Staaten am Weltmarkt dynamisierte nach 1990 die Diskussion um die Reform der UNO, welche ja das unmittelbare Produkt gerade der japanischen und deutschen Weltmachtpolitik von 1935 bis 1945 war und von daher die bis heute formal gültige „Feindstaatenregelung“ gegen diese Staaten umfasst.

 

Während Genschers Amtszeit tendierte Deutschland noch hoffnungsvoll dahin, dass die französische und britische Mitgliedschaft als ständige Vertreter des UN-Sicherheitsrates ihre nationalen Politiken zu Gunsten ihres gemeinsamen Vorgehens im Interesse eines sich zunehmend vereinigenden Europas verändern würden.2

 

Mit Deutschlands Alleingang in der Balkankrise und den deutsch dominierten Maastricht-Verträgen von 1992 wendete sich das Blatt der europäischen „Partnerschaften“ endgültig hin zur taktischen Einhegung neuer deutscher Vormachtgelüsten in Europa als Sprungbrett eines erneuten Griffs nach der Weltmacht. Nach und nach bröckelte die Front unterstützender „Freunde“ bezüglich eines deutschen ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat und endete 2005 als Desaster der deutschen Diplomatie – wie im Text später noch dokumentiert wird.

 

Deutschlands Außenministerium wusste 1992 darum, dass der Rückenwind in dieser Sache sich zum diplomatischen Gegenwind der „Partner“ verkehren würde. Deutschland hatte nach Kohls Worten mit seiner Geschichte abgeschlossen, die Nachkriegsordnung war von der Berliner Republik somit ad acta gelegt und sie sah daher den Zeitpunkt gekommen, eigene Ansprüche zu formulieren, um nicht in die Defensive gedrängt zu werden. Kinkel äußerte unmittelbar nach Amtsantritt, dass er Deutschlands ständigen Sitz im wichtigsten UNO-Gremium für „wünschenswert“ hielt.

 

In seiner ersten Rede vor der Generalversammlung der UN formulierte er: „Wir ergreifen hier keine Initiative. Wenn aber eine Änderung der jetzigen Zusammensetzung des Rats konkret ins Auge gefaßt wird, werden auch wir unseren Wunsch nach einem ständigen Sitz vorbringen.“ (Kinkel 1992).“3

 

Deutschland als zuverlässlichster und drittgrößter Finanzier der UNO setzte im damaligen Zeitraum sehr auf die multilaterale Stärkung der UNO gegen die plötzliche unipolare Hegemonie der USA, für die die UNO, einst als eigenes multilaterales Herrschaftsinstrument gegründet, wertlos bzw. hinderlich wurde.

 

Deutschlands Außenministerium legte 1993, kurz nach Kinkels Grundsatzartikel ihre Linie der nächsten fünf Jahre dar:

 

Die erste schriftliche Stellungnahme der Bundesregierung zur Reform des UN-Sicherheitsrats blieb grundlegend für die deutsche Position in der Zeitspanne von 1993 bis zum Regierungswechsel 1998.

In der fünf Punkte umfassenden, knappen Erklärung verwies die Bundesregierung zunächst auf die gewachsene Autorität der UN seit dem Ende des Ost-West-Konflikt (1.), stellte die gewachsene Handlungsfähigkeit aufgrund gestiegener Einigkeit im Rat fest (2.), um dann (3.) eine Reform hinsichtlich der Zusammensetzung des Sicherheitsrates zu begrüßen. Daran anschließend unterstrich die Bundesregierung (4.) die Bedeutung der beiden Kriterien Handlungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit des Rates.

Der fünfte Punkt lautete:

'Als die Bundesrepublik Deutschland die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen übernahm, verpflichtete sich die Bundesregierung, alle Rechte und Pflichten eines Mitglieds der Vereinten Nationen wahrzunehmen. Sie steht zu dieser Verpflichtung. Die Bundesrepublik ist dankbar, daß eine Reihe von Mitgliedstaaten zum Ausdruck gebracht haben, daß die Bundesrepublik Deutschland ein natürlicher Kandidat für eine ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat sein sollte. Sie betrachtet dies als Anerkennung ihres politischen, materiellen, finanziellen und personellen Beitrags zur Erhaltung des Weltfriedens. Die Bundesregierung ist auch bereit, die Verantwortung zu übernehmen, die eine ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat mit sich bringt.'“ (Bundesregierung 1993).“4

 

Die ersten vier Punkte sind formale diplomatische Heuchelei zwecks erhoffter eigener Vorteile. Danach kommt Deutschland erkenntlich zur Kontinuität seiner normalen Selbstüberschätzung zurück. Da treibt das deutsche Wesen wieder sein Unwesen: Deutschland sieht seine Kandidatur als Mitglied im entscheidenden UN-Gremium als „natürlich“ an, natürlich von ominösen Dritten hierzu als „natürlich“ empfohlen, und protzt mit seiner ökonomischen Potenz für den Weltfrieden. Was „natürlich“ ist, hat natürlich auch einen „natürlichen“ Anspruch auf den scheinbaren Platz an der Sonne. „Natürlich“ bewiesen die zeitgleich laufenden Gemetzel in Bosnien der versammelten Diplomatencrew der Welt, wie Deutschland sich für die „Erhaltung des Weltfriedens“ ins Zeug zu schmeißen versteht.

 

Der Anspruch auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat wurde seit 1992 von allen Regierungen entsprechend der UNO-Gangart hartnäckig verfolgt. Es wird beim entsprechenden Zeitfenster noch darauf eingegangen, wie die BRD 2004/05 unter der Schröder/Fischer-Gang gerade in dieser Sache ihre schwerste bisherige diplomatische Niederlage überhaupt erlitt.

 

Der Gauckler vom Schlössle erinnerte zum „Tag der deutschen Einheit“ 2013 die noch nicht ausgekuhhandelte neue Merkel-Regierung in einer sicherlich mit dem AA abgestimmten Rede schon mal in aller pfäffischen Unschuld an ihre kommenden Hausaufgaben:

 

"Deshalb ist es richtig, wenn andere ebenso wie wir selbst fragen: Nimmt Deutschland seine Verantwortung ausreichend wahr gegenüber den Nachbarn im Osten, im Nahen Osten und am südlichen Mittelmeer? Welchen Beitrag leistet Deutschland, um die aufstrebenden Schwellenmächte als Partner der internationalen Ordnung zu gewinnen?

 

Und wenn wir einen ständigen Platz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anstreben: Welche Rolle sind wir bereit, bei Krisen in ferneren Weltregionen zu spielen?

 

Unser Land ist keine Insel. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, wir könnten verschont bleiben von den politischen und ökonomischen, den ökologischen und militärischen Konflikten, wenn wir uns an deren Lösung nicht beteiligen.

 

Ich mag mir nicht vorstellen, dass Deutschland sich groß macht, um andere zu bevormunden. Ich mag mir aber genau so wenig vorstellen, dass Deutschland sich klein macht, um Risiken und Solidarität zu umgehen. Ein Land, das sich so als Teil eines Ganzen versteht, muss weder bei uns Deutschen auf Abwehr noch bei den Nachbarn auf Misstrauen stoßen."5

 

Diese Leier des deutschen Wunschdenkens läuft nun schon seit geschlagenen zwanzig Jahren. Regelmäßig wird sich auf andere berufen, die angeblich mehr „Verantwortung“ von Deutschland fordern, Gauck zog die Karte eines ehemaligen polnischen Außenpolitikers. Dabei ist es kein Geheimnis nach den Erfahrungen der Kollaboration während des Nationalsozialismus, dass heute erst recht eine gewichtige Zahl des ökonomischen, politischen und ideologischen Führungspersonals der EU-“Partner“ Deutschlands Durchmarsch in Europa begrüßt – weil das „Christliche Abendland“ ansonsten im Orkus des Weltmarkts des 21. Jahrhunderts verschwindet. Gauck variiert seine selbstreferentiellen Beruhigungspillen für die „Bedenkenträger“ der „Partner“ nach der Europarede diesmal mit: „Ich mag mir nicht vorstellen, dass Deutschland sich groß macht, um andere zu bevormunden.“ Sagte der preußische Erzieher arglos und alle Schüler bissen im Wissen um den Prügelstock auf die Zähne.

 

Frankreich und England gingen und gehen derweil bis heute im UN-Sicherheitsrat „natürlich“ ihre eigenen natürlichen nationalen Wege und denken bisher überhaupt nicht daran, „europäische“, sprich deutsche, Interessen im Weltsicherheitsrat zu vertreten.

 

Wie später skizziert wird, wird die BRD seit 2005 von sprichwörtlich allen westlichen UNO-Mitgliedstaaten in der Angelegenheit ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat mit Veto-Recht als persona non grata gehandelt. Von daher kann Deutschland auf dem formal wichtigsten Parkett in der Frage von Krieg und Frieden auf Sicht seine erhoffte Weltmachtrolle nicht ausbauen.

 

1 Zitiert nach Wikipedia aus: K. Kinkel, Deutsche Außenpolitik in einer sich neu ordnenden Welt, FAZ 19. März 1993

 

2 Gunther Hellmann/Ulrich Roos, Das deutsche Streben nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat – Analyse eines Irrwegs und Skizzen eines Auswegs, INEF-Studie 92/2007, Universität Duisburg, S.14f.

 

3 Ebenda S. 15, Kinkel, Klaus 1992: Rede des Bundesaußenministers vor der 47. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York am 23.9.1992, in:Presse und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bulletin, Nr.101, 25.9.1992.

 

4 Ebenda S. 15, Bundesregierung 1993: Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland zur Resolution 47/62 der Generalversammlung der Vereinten Nationen, vorgelegt am 30. Juni 1993, in: EuropaArchiv, 48/19: D385.

 

5 Gaucks Rede im Wortlaut "Die Freiheit in der Freiheit gestalten"

Der Tagesspiegel 03.10.2013

Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

Wertkritischer Exorzismus
Hässlicher Deutscher
Finanzmarktkrise