Die Auflösung der SU dynamisierte zeitgleich zur Jugoslawienkrise den Dauer-Krisenherd Südwestasien. Der Irak versuchte, die günstige Situation des kurzzeitigen Machtvakuums zum Aufstieg zur Regionalmacht in Nah-Ost zu nutzen.
Der Irak hatte 1980 mit einem abenteuerlichen militärischen Angriff auf die Erdgas und -öl reiche iranische Provinz Chuzestan am Schatt al-Arab bzw. iranisch Arvand Rut erstmals versucht, die dortige seit Jahrhunderten umstrittene Grenzziehung zu seinen Gunsten zu revidieren. Dieser mit ungeheuren Menschen- und Materialverlusten verbundene Golfkrieg I genannte brutale Stellungskrieg zwischen Irak und Iran wurde 1988 mit einem Waffenstillstand beendet.
Nach dem Krieg konnte sich der Irak 1990 tatsächlich selbst als aufstrebende Regionalmacht sehen. Denn der regionale Gegner Iran verlor mit der SU seinen einzigen weltpolitisch relevanten Rückhalt. Dagegen verliehen die ökonomischen und politischen Beziehungen zu den in Konkurrenz gehaltenen wichtigsten Industriestaaten sowie andererseits zur SU dem Irak Rückenwind zu Annexionsgelüsten als Form des Begleichens einer weiteren alten ausstehenden Rechnung der regionalen halb-feudalen Autokraten-Cliquen und der Problemstellung imperial gezogener Staatsgrenzen.
Im August 1990 besetzte der Irak im militärischen Handstreich das Emirat Kuwait und verkündete dessen Annexion. Nach dem völkerrechtswidrigen Annexionsakt wendeten sich die westlichen Hauptkräfte von ihrem von ihnen (gegen den Iran) militärisch hochgerüsteten Zögling ab. Die UNO-Resolutionen zeitigten keine Resultate. Am 15.01.1991 führte eine Allianz von 37 Nationen unter US-Führung ihre ersten militärischen Operationen durch.
In diesem Fall ging Deutschland neben Japan als einziges bedeutsames westliches Land nicht mit. Deutschland lieferte zwar Kriegsgerät an Israel und schickte ein Dutzend Flugzeuge in die Türkei. Tatsächlich betrieb Berlin Appeasement-Politik gegenüber dem Hussein-Regime. Anschließend stellte die USA der deutschen Scheckbuchdiplomatie eine gepfefferte Rechnung über 17,5 Mrd. DM aus.
Wie im Abschnitt zur Kritik der neudeutschen Ideologie vorne aufgezeigt wurde, war der Golfkrieg II der Katalysator der dreigliedrigen Initiation der neu-deutschen Volksgemeinschaft: Identitätsstiftung durch Vereinigung auf die USA als dem äußeren Hauptfeind der Völker; Xenophobe Gewaltorgien als innere Identitätsfindung durch Ausschluss des „Undeutschen“; Reinigungsrituale des Standorts durch sich schämende deutsche Gutmenschen; zugleich schlug der latente Antisemitismus in der alten BRD um in manifesten Antisemitismus in der Berliner Republik: seither ist Israel für die Deutschen der Jude unter den Staaten.
Es war die Linie des Appeasements des gegenwärtigen militärischen Winzlings, die seit Genschers Besuch als erstem westeuropäischen Außenminister in Teheran 1984 als Kritischer Dialog1 mit dem Iran durch die Gazetten geistert. So taktierte Deutschland in früheren Libyenkrisen, wie auch 2011 beim Alliierten-Angriff auf das Gaddhafi-Regime. Jedesmal hält sich Deutschland fein raus aus der imperialistischen Drecksarbeit. Jedesmal rechnen dann die deutschen Industrieverbände aus, wie viel ihnen als Beute zufallen könnte. Oder sie murren öffentlich, wenn sie ausgebootet werden. Denn Deutschland braucht den Status Quo in Südwestasien und Nordafrika. Vor wie nach der sogenannten Arabellion 2011. Die vordemokratische Friedhofsruhe ist förderlich fürs Geschäft. Keine demokratischen Prozeduren, von denen die Bourgeoisie in der BRD genervt wird und die sie gegenwärtig einzuengen versucht. Die dortigen Führer entscheiden im feudalistischen Stil selbstermächtigt über die Investitionspläne und Infrastrukturmaßnahmen der gesamten Region. Diese Weltmarktsegmente sind Domänen der BRD-Ökonomie. Und Deutschland war in den 1980ern gut ins Geschäft gekommen mit dem Irak2 während dessen Krieg gegen den Iran. Dort wiederum hielt der Kritische Dialog die Tür offen für die Fortsetzung der Wirtschaftsbeziehungen nach 1988, wie sie sich während des Schah-Regimes und vor allem mit dem Mullah-Regime entwickelt hatten3 und bis heute unter der Parole des "Wandels durch Annäherung" fortentwickelt wurden.4 Dass Deutschland bis heute wesentlich zur Fähigkeit des Irans zum Bau der Atombombe beigetragen hat, ist Teil alter „natürlicher arischer“ strategischer Sonderbeziehungen zwischen Berlin und Teheran.5
Nicht von ungefähr brachte also der von der säkularen Mehrheit der Iraner als kleinstes Übel 2013 ins Präsidentenamt gehievte Rohani im September Deutschland als Vermittler im Streit um das iranische Atomprogramm ins Gespräch. Er betonte, dass Deutschland für den Iran das wichtigste Land in der EU ist. Anfang Oktober legte Irans engster Verbündeter, der syrische Autokrat Assad nach und brachte Deutschland in einem SPIEGEL-Interview als Vermittler in der Syrienkrise ins Spiel. Die drei alten Westallierten stecken in ihrer Nah-Ost-Politik in der strategischen Sackgasse, so dass Deutschland im Lichte des „ehrlichen Maklers“ erscheint. Dreißig Jahre deutsch-iranischer kritischer Dialog und Appeasement-Politik tragen unübersehbar ihre Früchte.
Geht man die Staaten Südwestasiens bezüglich der Entwicklung ihrer Wirtschaftsbeziehungen zur BRD Land für Land durch, dann wird klar, dass Deutschland 1990 Appeasement-Politik betreiben musste, wenn es dort seine Marktanteile behalten und ausdehnen wollte. Ein sich mittels Ölrente entwickelnder Staatengürtel in Südwestasien und Nordafrika an der Süd-Ost-Flanke der EU ist der Traum der deutschen Bourgeoisie. Sie hält nicht nur die Erinnerungen an die Bagdadbahn wach, sondern träumt über Teheran hinaus bis Neu-Delhi und hat 2004 schon mal mit der Strategischen Partnerschaft der EU und Indien angefangen6. Alles in allem nutzte 1990 und fortwährend bis heute der Status Quo der rivalisierenden Staaten Südwest-Asiens den deutschen Interessen sogenannter friedlicher wirtschaftlicher Durchdringung7 am stärksten. Daher die damalige und bis heute regelmäßig eingenommene deutsche Appeasement-Politik bei Auseinandersetzungen in dieser ressourcenreichen geostrategischen Krisenregion.
Umgekehrt können die vermeintlich kriegstüchtigen westlichen Hauptkräfte den Status Quo der sich mit martialischen Drohgebärden als Regionalmächte aufrüstenden Regimes nicht zulassen, wenn sie die Kontrolle über die Region nicht auch noch auf ihrer verbliebenen militärischen Domäne vollständig verlieren wollen. So schien es jedenfalls noch 1990. Inzwischen zeigen die militärischen Operationen der 'zivilisierten' Welt offensichtlich das Ende vergangener Kriegsführung der militärischen Besatzungs-Fähigkeit ausgedehnterer Territorien an. Wohin sich die Dynamisierung asymmetrischer Kriegsführung infolge der einsetzenden Roboterisierung des Kriegshandwerks und Cyber-War im Zeichen des Niedergangs der Nationalstaaten entwickeln wird, ist nicht vorhersehbar.
Zur Kritik steht hier nicht, dass imperialistische8 Politik von Nationalstaaten nach nationalen Interessen unterschiedlich betrieben wird. Dies liegt in ihrer Natur und ist Gegenstand eigenständiger Kritik an anderer Stelle. Hier geht es darum, aufzuzeigen, dass und wie sich Deutschland durch seine politischen Alleingänge seit 1990 von seinen westlichen „Freunden“ bei der Durchsetzung eigener alt gehegter Vormacht-Vorstellungen nach und nach selbst isoliert. Und dass Deutschland seine Interessen auf dem Weltmarkt stets – Selbstlosigkeit heuchelnd – in Menschenrechts-Pose verbrämend vor sich herträgt. Und dass die deutsche Linke diesen Prozess deutscher Expansion ideologisch flankiert, statt das Treiben der deutschen Bourgeoisie im eigenen Land mit der Waffe der Kritik anzugreifen. Seit der Jugoslawienkrise drängte Deutschland seinen westlichen „Partnern“ seine völkische Interventionsmaxime auf: Menschenrecht bricht Völkerrecht.
1 Dies ist eine Variation der Strategie des Wandels durch Annäherung, wie sie die BRD während des Kalten Krieges bezüglich des RGW mittels Warenhandels vielfach umsetzte.
2 Erich Schmidt-Eenboom, Kapitel 4 und 5: Der ganz Nahe Osten sowie Maghrebinische Geschichten, in: Der Schattenkrieger. Klaus Kinkel und der BND, 1995
3 Ralf Balke, Seit 30 Jahren auf dem Sonderweg Der Artikel aus dem Handelsblatt vom 09.01.2010 ist ein Lesehinweis auf das Buch von: Küntzel, Matthias, Die Deutschen und der Iran - Geschichte und Gegenwart einer verhängnisvollen Freundschaft, wjs 2009
4 Zwanzig Jahre später, Anfang 2012 stand zunächst ein Embargo gegen den Iran zur Verhinderung von dessen angenommenen Atombombenbau zur Entscheidung im politischen Raum. Da blieb den entgegengesetzten Interessen verschiedener deutscher Kapitalfraktionen nichts anderes übrig, als ihre Ideologen lauthals medial in Stellung zu bringen. Die transatlantisch orientierten modernen technologischen Kapitalfraktionen plädierten wie meist für ein Mitgehen im Westlichen Tross. Die den Iran strategisch als Deutsch-EU Energielieferanten und Abnehmer von Maschinen und Anlagen und als potentiellen Industriestandort verteidigenden Kapitalistengruppen lassen ihre Forderungen nach Appeasement-Politik phraseologisieren als „Wandel durch Annäherung“:
„Widerstände gegen die Konfrontationspolitik kommen nicht nur aus der Wirtschaft, sondern auch aus dem außenpolitischen Establishment Berlins. Einschätzungen, denen zufolge blanke Drohmaßnahmen nicht der angemessene Umgang mit dem iranischen Regime seien, würden bereits »seit Jahren vor allem vom regierungsnahen Thinktank Stiftung Wissenschaft und Politik [SWP – d. Red.] vertreten«, mokierte sich zu Jahresbeginn Joachim Krause in seinem eingangs erwähnten Text in der Internationalen Politik. Seine Feststellung trifft zu: In der SWP wird bereits seit Jahren für eine Iran-Politik geworben, die eher nach dem Motto »Wandel durch Annäherung« funktioniert. »Wer Einwirkungsmöglichkeiten, die sich etwa durch die Verhandlungen über ein Handels- und Kooperationsabkommen und durch den politischen Dialog ergeben, aufgibt, um in einer durchaus wichtigen, strittigen Frage – dem iranischen Atomprogramm – Druck auszuüben«, schrieb der heutige SWP-Direktor Volker Perthes schon 2004, »könnte am Ende gerade jene Kräfte schwächen, die an Reform und Zusammenarbeit interessiert sind, ohne daß er an der nuklearen Front irgendeinen Fortschritt erreicht«.“ In: Jörg Kronauer, Zwei Fraktionen – Analyse. Kooperation oder Konfrontation? In der Iran-Politik ist das bundesdeutsche Establishment gespalten, Junge Welt vom 25.01.2012.
5 Vgl.: Matthias Küntzel, Deutschland, Iran und die Bombe
6 Der Indien-Besuch von Bundeskanzlerin Merkel am 31.05.2011 ging einher mit der ersten deutsch-indischen Regierungskonsultation. So deklarierte Partnerschaften pflegt Deutschland nur mit wenigen Staaten. Nach außen erscheint es so, als ob dies nur dem Ausbau der 2004 abgeschlossenen Strategischen Partnerschaft der EU und Indien dient und nicht deutsch-nationalen Interessen. Der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit dem Wachstumsmarkt Indien steht nach Worten von Hans Heinrich Driftmann, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), für die deutsche Wirtschaft "weit oben auf der Asien-Agenda". Zuvorderst rekrutiert Berlin dabei jedoch asiatische „Partner“ zum Aufbau seiner eigenen US-unabhängigen Eindämmungslinie gegenüber dem Aufstieg Chinas. H. H. Driftmann, Strategische Partnerschaft mit Indien gewinnt an Bedeutung