Der erste Schritt der Initiation der deutschen Volksgemeinschaft a là
Berliner Republik wurde in Kapitel 12.1. so abgeschlossen: Die USA
wurden spätestens mit den deutschen Antikriegsdemonstrationen 1991 als
äußerer Feind Nummer eins der sich artikulierenden und somit neu
formierenden deutschen Volksgemeinschaft von rechts bis links
zurückgewonnen. Die Akzentverschiebung war allerdings gravierend. Die
USA wird seither mit Israel zu dem äußeren Feind aller Völker
verschmolzen.
Nach der Skizzierung des dreigliedrigen völkischen Initiations-Rituals muss die Frage des Verhältnisses der liberalen und linken Bevölkerungsteile Deutschlands zu Israel wegen ihrer deutschen Eigentümlichkeiten nochmals gesondert thematisiert werden.
A.
Israel wurde, obwohl der Irak ihm 1991 im Golfkrieg II lauthals mit
Angriffen drohte, meist unausgesprochen selbst verantwortlich gemacht
für die irakischen Raketenangriffe 1991. Seit der ersten Intifada und erst
recht nach dem Golfkrieg II wird Israel gerade in Deutschland, aber
auch in ganz Europa von rechts bis links in Umkehrung der tatsächlichen
Täter-Opfer-Konstellation als der Jude unter den Staaten, als
phantasmagorisch wahrgenommener gravierender Störenfried des
Weltfriedens stigmatisiert. Bei einer repräsentativen Umfrage der BBC1
von 2012/13 steht Deutschland im Ranking der Staaten mit positivem
Einfluss aufs Weltgeschehen ganz vorne, während Israel mit der „Achse
des Bösen“ zu den vier Staaten mit dem negativsten Einfluss zählt. Israel
gilt gar als das Florett oder der Flugzeugträger des US-Imperialismus.
Diese regressive außenpolitische Opfer-Täter-Verschiebung gerade
auch in der deutschen Linken katalysierte das völkische
Zusammenrücken der Deutschen nach 1991 wiederholt.
Die allermeisten Splitter der deutschen Linken weisen den
Antisemitismus-Vorwurf empört zurück und betonen, dass ihr
Antizionismus nur die gerechtfertigte Kritik an Israels Politik ausspricht.
Die deutsche Linke hat seit den 70er Jahren die Kritik ihres
Antizionismus als sekundären Antisemitismus stets ignoriert, in der die
Verschiebung des Antisemitismus zum Anti-Israelismus konstatiert
wurde2. Die antisemitische Folie des linken Antizionismus drang
spätestens im Libanonkrieg 1982 zur Oberfläche, als Israels Intervention
in den libanesischen Bürgerkrieg in der deutschen Linken mit Begriffen
wie „Faschismus“ und „Holocaust“ belegt wurde. Die linken
Friedensfreunde und Menschenrechtler, die zuvor bei der Raketen-
Nachrüstung 1981 ihren Antiamerikanismus zur Blüte trieben, fühlten
sich moralisch überlegen. Gerade Auschwitz verpflichte die büßenden
und reumütigen Deutschen dazu, „Israel mit Lob und Tadel moralisch
beizustehen, damit das Opfer nicht rückfällig werde“, wie der Publizist
Wolfgang Pohrt damals treffend analysierte. Die frühen Kritiker des
linken Antisemitismus seit 1967 betonten, dass all die linke Israelkritik die
Funktion der Entlastung Deutschlands von seiner „Vergangenheit“ hatte.
Die Linke war damals schon ein wichtiger Wegbereiter der
Durchsetzung der„Normalität“ Deutschlands als gleichberechtigte
Nation der „Großen“; zwischen 1980 und 2003 bewährte sie sich neben
den Grünen sogar als einer ihrer Vorreiter.
Der linke Antizionismus lebt fast mythisch von der Überzeugung
behaupteter israelischer Großstaatsträume. Nur auf dieser scheinbar
sicheren geopolitischen Argumentationsgrundlage konnte der
„Antizionismus“ seit der Staatsgründung Israel zunehmende Dynamik
entfalten. Wer Bestrebungen nach einem Großisrael (bis zum
Euphrat?) als israelische Staatsdoktrin unterstellt, sollte den Sinn dieses
Planes erläutern. Israel als ökonomischer Winzling des Weltmarkts wäre
heilfroh, seine Grenzen zum Abschluss zu bringen. Auf seinem jetzigen
Territorium haben zur Not eines sich weltweit zuspitzenden
eliminatorischen Antisemitismus alle 15 Millionen Juden des Erdballs
Platz.
Dass der heutige linke Antizionismus den historischen Bruch des
Antizionismus vor und nach der Shoah und Staatsgründung Israels nicht
historisch reflektiert, sondern einfach als Kontinuität eines Ideologems
behandelt, verweist auf leere Begriffshuberei jenseits einer historisch-
genetischen Analyse. Denn bis 1933 war die klassenorientierte
antizionistische Linie – hier in Europa zu bleiben und zu kämpfen,
statt nach Palästina auszuwandern – scheinbar vernünftig, da die
berechtigte Überzeugung herrschte, dass die Judenfrage wie alle
nationalen Fragen durch die proletarische Weltrevolution tendenziell
hinfällig werden würde. Nach dem Versagen der Arbeiterbewegung und
ihrer Zerstörung nach 1933 war die wichtigste Bastion gegen die
„Endlösung“ durch die sich zusammenschließende deutsche
Volksgemeinschaft geschleift. Die linksradikalen europäischen
Strömungen der Vorkriegszeit begriffen den Antisemitismus gar
defätistisch als rein innerbourgeoisen Kampf.
Die wichtigsten linken Strömungen im Deutschland der Gegenwart
können aus der Tradition des Marxismus-Leninismus kommend keinerlei
Zusammenhang zwischen der proletarischen Niederlage von 1933 und
der Shoah erkennen. Kein Wunder, denn die deutsche Bourgeoisie hat
gemäß ML Hitler an die Macht gebracht, das Proletariat und dessen
politische Partei, die KPD waren zu schwach und haben keineswegs
versagt. Basta! So einfach wird das Versagen der Kommunistischen
Internationalen unter Stalins Fuchtel unbearbeitet ausgeblendet und so
„klar“, weil ebenfalls geschichtslos, ist eben auch der heutige
Antizionismus.
Nach der Shoah stellt sich das Problem allerdings anders.
Der Zionismus hat mit der Staatsgründung Israels sein politisches Ziel
erreicht und seine historische Stellung und Wirkmächtigkeit als
nationale Selbst-Befreiungsbewegung der Juden verloren. Die Linke hat
wohl verdrängt, dass die Geburt des Zionismus Ausdruck der
verzweifelten Selbstverteidigung der europäischen Juden gegen
Pogrome und den zum Ende des 19. Jahrhundert aufkommenden
aggressiven modernen Antisemitismus war. Seine ideologische Stellung
in Israel selbst wird zukünftig sicherlich mit dem Grad der existenziellen
Gefährdung Israels durch äußere Bedrohung korrelieren.
Es ist müßig, sich mit der antizionistischen Linken über antisemitische
Folien, die ihren Argumentationslinien offensichtlich zu Grunde liegen,
auseinander setzen zu wollen, das Thema Israel ist affektmäßig äußerst
aggressiv besetzt. Diese auf Israel fixierte emotionale Besetzung verweist
auf Anderes, scheinbar Unausprechliches, das verdeckt werden soll
durch die oberflächliche Anklage der „Unmenschlichkeit“ der Politik
Israels, die allerdings vom rigoros pazifistisch-humanistischen
Standpunkt her scharf zu kritisieren ist. Vom politischen Standpunkt des
Proletariats ist die Kritik jedoch anders zu führen, stets vermittelt über die
Frage, welchen Nutzen die Herren im eigenen Lande aus der Kritik an
Israels Politik ziehen.
Glaubwürdiger wäre die antiisraelische Schlagseite der deutschen
Linken eventuell, wenn dieselbe linke breite Empörungsfront von
Menschenfreunden beispielsweise mit derselben Intensität und Schärfe
und Kontinuität und Verve die deutsch-getriebene FRONTEX-Politik der
EU-Festung Europa gegen Arbeitsimmigranten angehen würde. Aber
ach, dann würden sie sich ja von den „Massen“ isolieren, die mit den
Frontex-Maßnahmen mehr als einverstanden sind. Auf die „Massen“
setzen die Linken nun aber partout selbstversichernd, ohne in ihnen je
zu „schwimmen, wie der Fisch im Wasser“.
B.
Ebenso wird in dieser Linken gerne über das „Existenzrecht Israels“
räsoniert. Eine deutsche Linke, die als gesellschaftliche Kraft am Boden
liegt und über keine politisch brauchbare innenpolitische Analyse
verfügt, spielt sich auf dem außenpolitischen Parkett mit 50 Jahren
stumpfen Schwerthieben besserwisserisch zum gnädigen Richter auf.
Wie die Partei DIE LINKE in ihrem Grundsatzprogramm von 2011
staatstragend ihre Verantwortung für die Sicherheit Israels aus jener des
deutschen Staates ableitet, sehen sie sich schon in
Regierungsverantwortung, obwohl keiner sie als Koalitionspartner
braucht – es sei denn als konterrevolutionären Part in aller höchster bourgeoiser Notlage.
Israel mag die edle staatlich garantierte deutsche Haftungsgemeinschaft
für seine Sicherheit freuen. Was es von solchen „Freunden“ zu halten
und zu erwarten hat, kann es jedoch nur aus deren politischen Praxis
herleiten. Die obligatorischen deutschen Ratschläge aller Couleurs und
das deutsche Appeasement-Gebaren gegenüber den arabischen
Regimes von deutscher Regierung und ihrem Volk verweisen jedoch
stets darauf, dass Israel sich nur auf sich selbst verlassen kann,
wenn es nicht von allen guten Geistern des Verstandes verlassen ist.
Als würde die Existenz und Souveränität eines Staates nicht durch seine
militärische Selbstverteidigungs-Fähigkeit gesichert, und sonst gar
nichts. Den Rechtsbegriff bezüglich existierender Staaten ins Feld zu
führen, kann nur furchtbaren deutschen Jurisprudenz-Fetischisten
einfallen, wie sie es z.B. als einzige National-Juristen der Welt fertig
brachten, die DDR per BRD-Rechts-Selbstdefinitionsgewalt als von
Moskau installierten „Unrechts-Staat“ meinten bestimmen zu können.
Dass die linken Strömungen der BRD das „Existenzrecht“ Israels
überhaupt als Fragestellung aufwerfen und dann auch noch großzügiger
Weise in staatstragender Geste ungefragt anbieten meinen zu müssen,
zeugt von Ignoranz gegenüber dem Bildungsprozess der modernen
Staaten.
Die Scheinfrage nach der „Künstlichkeit“ Israels (mit der impliziten
zynischen Konnotation des „Siedlerstaates“) suggeriert, dass es
natürlich verlaufende Nationalstaats-Bildung homogen „sesshafter“
Populationen gibt oder gegeben hat. Tatsächlich ist die naturwüchsig
kapitalistisch getriebene Gründung der bürgerlichen Nationalstaaten die
politische Tat klassenübergreifender Volksfronten – also artifiziell = von
Menschenhand und Kopf geschaffen, wie jede menschliche
Vergegenständlichung. Und Einwanderungswellen von „Siedlern“ aus
vielen Ländern waren in den nationalen Bewegungen so mancher
Nationalstaaten treibende Elemente der Staatsgründung. Der
Unterschied zu Israel ist, dass dort seit 1948 bis heute unter den Augen
der Welt die territoriale Staatsgrenze als eins der wesentlichen Merkmale
von Staatlichkeit unabgeschlossen ist.
Wie „natürlich“ die Nationen entstehen, lässt sich gerade durch die im
Sykes-Picot-Abkommen von 1916 imperial per Lineal am Schreibtisch
gezogenen Grenzen der heutigen Staaten Afrikas und des sogenannten
Mittleren und Nahen-Ostens quer durch damalige Stammesgebiete
verdeutlichen. Diese „Staaten“ waren damals kapitalistisch vollständig
unentwickelt und ohne Bürgertum. Die heutigen Grenzen stehen daher
stetig in Frage, so wie es die Tuareg 2012 mit der Ausrufung eines
eigenen Staates in Mali demonstrierten und die Südsudanesische-
Befreiungsfront mit der Sezession des Südsudans unter deutscher
Beihilfe vollzog – faktisch ein Übergang zu einem unüberschaubaren
Bürgerkrieg.
Sodann ließen sich die letzten 20 Jahre die von Deutschland
protegierten völkischen „Staatengründungen“ verfolgen an Slowenien,
Kroatien, Bosnien-H, Montenegro, insbesondere Kosovo, Mazedonien,
jetzt Süd-Sudan. Demnächst Nordirak-Kurdistan; wann West- und
Ostlybien, Schottland und England, Wallonien und Flandern, vielleicht
auch Pandania (Norditalien), Südtirols Anschluss an Österreich,
Umbriens Anschluss an die Schweiz und Süd-Restitalien, Katalonien,
Baskenland und Restspanien?
Jedesmal ist der völkische Separatist zur erfolgreichen Sezession vom
Zentralstaat auf mächtige Hegemons angewiesen, die ihren Nutzen aus
dem Teile und Herrsche ziehen. Deutschlands Kontinuitätslinie
völkischer Destabilisierungspolitik insbesondere in Europa durchzieht
den gesamten vorliegenden Text.
Erfahrungsgemäß wird die deutsche Linke beim Zerfall der (nicht nur)
europäischen Nationalstaaten3 ihre ganze Kraft auf die dann
anstehenden Diskussionen um das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“
und das „Existenzrecht“ der neuen völkischen Staaten verwenden.
Eine klassenorientierte Linke in Deutschland hätte jetzt die
sezessionistische Wühlarbeit Deutschlands in allen obigen Ländern, die
Verstärkung der dortigen Sezessionstendenzen durch die deutschen
Spardiktate herauszuarbeiten und die Konfliktlinien der
Hauptantagonisten der EU und insbesondere Deutsch-EURO-lands
sowie des Weltmarkts bei dieser Nationenbildung zu untersuchen. Der
Weg der kulturalistisch geprägten regionalistischen klein-bürgerlichen –
völkisch-nationalen – Auffassung vom Selbstbestimmungsrecht der
Völker kommt in Sezessionsfällen unter dem Label Menschenrechte
allseits in Mode. Die proletarische Linie rät den Arbeitern der betroffenen
Nationen, um der besseren Klassenkampfbedingungen willen, für den
Verbleib der Teilrepublik im gegebenen Nationalstaat.
Soweit im Kontext Israel zur Scheinfrage des „Existenzrechts von
Nationalstaaten“ und dem Selbstbestimmungsrecht von Völkern. Sie
wird nur gestellt im unmittelbaren ideologischen Zusammenhang mit dem
manifesten Antiamerikanismus und Antizionismus in der deutschen
Linken als Opfer-Täter verdrehenden Stichwortgebern des deutschen
völkischen Zusammenschlusses gegen die USA als Deutschlands
potentiell äußerer Feind Nummer eins und Israel als „Bedrohung des
Weltfriedens“.
C.
Die deutsche Appeasement-Politik bei der Intervention der NATO 2011 zur Ersetzung des Gaddafi-Clans in Libyen durch die Führungscliquen rivalisierender Stämme war der letzte irritierende Alleingang Deutschlands – wieder flankiert von der deutschen Friedensbewegung. In der Syrienkrise fährt die deutsche Regierung seit 2011 einen diplomatischen Kurs, dessen Geräuschlosigkeit der Friedensbewegung keine öffentliche Aufmerksamkeit bescherte.
Und wie die laufende Konfrontationslinie zwischen den verfeindeten westlichen Bourgeoisien um die Verhinderung einer potentiellen iranischen atomaren Bewaffnung deutlich zeigt, ist wiederum die BRD die Haupt-Appeasement-Kraft, um sich als „ehrlicher“ Makler für später in Stellung zu bringen.4 Und Berlin kann sich dabei auf seine Friedensbewegung sicher verlassen. Dass Regierung und ihr Frieden einforderndes Volk dabei die Umsetzung der iranischen Drohungen, Israel „auszulöschen“, billigend in Kauf nehmen, ist kein Thema.
Umgekehrt sieht das entsprechend dem stets angewandten zweierlei Maß anders aus: Israels potentieller konventioneller Präventivschlag gegen das iranische Atomprogramm wird in der deutschen Friedensbewegung schon stillschweigend vorausgesetzt und wurde schon im Vorhinein im Schriftmaterial der Ostermärsche 2012 moralisch einhellig verdammt. Eine Linke, die in militärischen Fragen jede Realität verleugnet und die die Losung „Krieg löst keine Probleme“ o.ä. entschieden vor sich herträgt, ist vom links-bürgerlichen Pazifismus bis zur Unkenntlichkeit absorbiert worden.
Die kläglichen Reihen der OstermarschiererInnen bekamen 2012 prominente Schützenhilfe. Die Tinte der Flugblätter für den Ostermarsch war noch nicht trocken, da sprang ihnen Günter Grass gerade rechtzeitig vor dem Pessach-Fest5 2012 mit der ideologischen Krönung seines Lebenswerkes publikumswirksam bei. Endlich hatte er gedichtet Was gesagt werden muss.6 Das gleißendste Kronjuwel seiner deutschen Offenbarung ist:
"Warum sage ich jetzt erst,/ gealtert und mit letzter Tinte:/ Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden?“
Da der völkische Schulterschluss der deutschen „Geisteselite“ schon länger währt, wäre über dieses deutsche Allgemeingut in der Grass'schen Walseriade nach Vorstehendem kaum mehr als eine Fußnote zu verlieren. Wenn da nicht die Welle der Empörung der offiziellen Vertreter aller politischen und medialen Couleurs im Dreieck Berlin – Hamburg – München hochgeschwappt wäre.
Nun saß der ehrliche Makler schon in Istanbul und Bagdad mit den UN-Vetomächten gemeinsam am Verhandlungstisch mit dem Iran bezüglich eines diplomatischen Ausgangs der verfahrenen Situation der internationalen Kontrolle des iranischen Atomprogramms. Da fährt ihnen der genobelte Nationaldichter in die politische Parade und gießt Öl ins Feuer der deutschen Gemütslage.
Alle Grass-Kritiker schrieben offensichtlich gegen den Dammbruch des manifesten Antisemitismus des Durchschnittsdeutschen. Grass trifft ihre Seelennot, angeblich nicht sagen zu dürfen, was sie fühlen und denken: „Grass hat recht und spricht mir aus der Seele!“ Entlarvend ist, dass partout keiner der Zustimmenden überhaupt irgendein antisemitisches Ressentiment in den grasslichen Zeilen zu entdecken mag.
Dass einst das Weltjudentum schuld an den Weltkriegen sein sollte, beziehungsweise von den Deutschen einträchtig in fester Überzeugung offen als Anstifter der Weltkriege bezichtigt wurde und dass das der ganz alten Generation noch in den Ohren klingelt und als Echo in der Jetztzeit längst wieder aufgegriffen wurde, bleibt außerhalb der Reflexion. Dass nach Grass' Meinung Israel das iranische Volk mittels atomaren Erstschlags „auszulöschen“ droht, wird links nicht als vollendete deutsche Manier von Opfer-Täter-Verdrehung begriffen.
Längst sind in Deutschland alle alten antisemitischen Ressentiments und Klischees allerorten in unzähligen Modulationen Alltagsreligion geworden, alle geheuchelten antisemitischen Tabus sind schon lange gebrochen. Der Schoß wurde im Laufe der Zeit immer fruchtbarer. Das dabei aufstoßende schlechte Gewissen wird dann verklemmt und verlegen daherkommend mit der Paradoxie belegt, es sei ja in Deutschland tabu, Israel zu kritisieren. Was die Leut`s dann tatsächlich im Gegensatz zur veröffentlichten Meinung denken, wird in ihren Gesten überdeutlich: „Ich will mich nicht öffentlich in die Nesseln setzen!“ Und dann ziehen sie ab, denn zumindest die deutschen Gedaaanken sind frei.
Das angebliche Tabu Israel wurde übrigens schon in den 60er Jahren mit terroristischem Eifer von linken Desperados in gründlicher deutscher Manier gebrochen7. Dass die deutsche Linke dies verdrängt, ist Bestandteil ihres gesellschaftlich irrelevanten Daseins.
Grass' Dichtwerk ist die Umkehrung der faktisch offiziellen Drohung Irans an die Adresse Israels. Bestunterrichtet versucht Grass die iranische Drohung als unglaubwürdig lächerlich zu machen, indem er Ahmadinejad als „Maulheld“ abtut.
Ihm geht's wohl wie vielen Deutschen mit Karl May's alter ego teutonicus Kara Ben Nemsi: die Araber, und die Perser wohnen ja auch da irgendwo, sind verschlagen und Großmäuler. Nichts ist hinter deren antiwestlichen und antisemitischen Großsprecherei! Denn schließlich hat Grass Erfahrung, er diente sich jenseits des zarten Blechtrommler-Alters dem größten Maulhelden und Größten Feldherrn aller Zeiten rechtzeitig für den Endsieg an.
Was für eine deutsche Unverfrorenheit und Arroganz, das iranische Establishment nicht beim Wort zu nehmen! So oder ähnlich läuft auch das durchschnittliche deutsche sozialdarwinistische und sozial-chauvinistische Getrampel auf allen möglichen Nationalitäten je nach Tagesgeschehen ab – und die Leut's sehen einen ganz arglos an, wenn sie zur Rede gestellt werden.
Wenn Irans Drohungen ernst genommen werden, – und was bleibt dem Staat Israel sonst übrig – ist es angesichts der weit gediehenen zivilen nukleartechnischen Fähigkeiten des Irans Teil der normalen Geschäftsordnung, das Nuklearprogramm des Irans nach militärischen Komponenten entsprechend den vereinbarten internationalen Richtlinien abzuklopfen.
Würde Israels Politik eine atomare Erstschlagsdrohung auch nur einmal öffentlich in Erwägung ziehen, so würde dem territorialen Weltmarkt-Winzling zurecht sofort von allen Seiten die Hölle auf Erden gemacht, da der Status quo des machtstrategisch labilen Gleichgewichts der Nationen der Region Mittel-Nah-Ost vollständig aus dem Lot geraten würde. Sofort wären die großen, Hegemonie beanspruchenden Nachbarn Türkei, Saudi-Arabien und Ägypten zum Atombombenbau gezwungen – über den sie nun wegen der offensichtlichen iranischen regionalen hegemonialen Bestrebungen nachzudenken gezwungen sind. Warum fühlen sie sich bisher jedenfalls nicht von einem potentiellen israelischen Atombombenarsenal bedroht?
Militär- und verteidigungsstrategisch kann Israel nur auf eine generelle Defensivstrategie setzen. Dies belegt seine ganze kurze und kriegreiche Geschichte. Dass es bei seinen jeweiligen erfolgreichen Gegenangriffen und präventiven Interventionen sein Gelände territorial strategisch arrondierte (z.B. Golanhöhen), gehört regelmäßig zur bürgerlichen Nationalstaatsbildung dazu. Israel kann gar keine militärische Offensivstrategie gebrauchen, weil seine Weltmarktstellung auf Grenzabschluss wegen drohenden finanzieller Überforderung durch Verteidigungsausgaben drängt und keine Vorteile aus einer Annexion durch militärische Eroberung genannt werden können.
Was dann noch bleibt, ist die Frage, ob und wie viele „Atombomben“ Israel hat, um auf die implizite Drohung eines atomaren Vergeltungsschlags zur Abschreckung eines gegnerischen atomaren Angriffs setzen zu können. Ob Herr Grass hat ausrechnen lassen, wie viele Atombomben nötig sind, um „das iranische Volk auszulöschen“, ist nicht bekannt. Ihre Anzahl ist vermutlich sehr hoch. Das schert den freien Dichter nicht. Was aus ihm im verdrehten Gut-Böse/Opfer-Täter-Beuteschema moralisch aufgeladen herausbrach, musste schon mancher vor ihm loswerden, ohne sich je um Fakten zu kümmern.8
Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hatte Israel 2010 aufgefordert, seine Nuklearanlagen für UN-Kontrollen zu öffnen und dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten. An den drei Verweigern der Unterzeichnung des Vertrages, Pakistan, Indien und Israel, an deren Souveränitäts-Verständnis die supranationalen Einrichtungen der UNO abprallen, lässt sich die instabile politische Lage der gesamten Großregion Süd-West-Mittel-Asiens ablesen. Dem unterschiedlichsten Vernehmen nach kurven u.a. atomwaffenbestückte israelische U-Boote aus deutscher Produktion auf israelischer Konstruktionsgrundlage im Indischen Ozean herum. Genaues weiß man nicht, gesprochen wird mancherorts davon. Was den propagandistischen Krieg aller Seiten um die Zerstörung iranischer Anlagen betrifft, so hilft hier keine Atombombe weiter. Noch kein Staat verfügt bisher über eine Bombe mit genügend kinetischer Energie, um Anlagen irgendeiner Art tief im Fels zerstören zu können. Daran wird sich gegebenenfalls auch Israel die Zähne ausbeißen.
Der wirtschaftliche Aufstieg brachte die Türkei im letzten Jahrzehnt mit neo-osmanischen Phantasien als neuen Player mit Anspruch auf Hegemonie in der Region in Stellung. Somit liegen mit der Türkei, Iran, zuvor Irak, Saudi-Arabien und Ägypten nun insgesamt fünf große Staaten der Region – und nicht Israel – im Kampf um die regionale Vorherrschaft. Wie Israel sich hierin bewegen kann, wird in erster Linie von der Entfaltung der Konkurrenz der genannten Staaten bestimmt.
Die Kritik der deutschen Lieferung von U-Booten an Israel kann daher nicht ohne Reflexion seiner tatsächlich eliminatorischen Bedrohung arglos humanitätsduselig daherkommen. Prioritär gilt sowieso, den Blick dem Hauptfeind der lohnabhängigen Klasse in Deutschland zu zuwenden und die Rüstungsexporte nach Israel zunächst einmal als Bestandteil einer Kritik der gesamten deutschen Rüstungsexporte zu fassen. Aufgabe wäre es demnach, deren Zusammensetzung und Steigerung der zwei letzten Jahrzehnte nachzuzeichnen, die Verteilung nach Importstaaten aufzuschlüsseln, die dazugehörigen staatlichen Rahmenbedingungen herauszufinden, die militärische und politische Kooperation der BRD mit den entsprechenden Regimes herauszuarbeiten, die waffentechnischen Vorteile der BRD zur eigenen modernen Interventions- und Angriffsarmee zu benennen9.
Auf dieser Grundlage ist die Einschätzung erst möglich, wie die BRD sich mit ihren zahlreichen Waffendeals sukzessive machtstrategisch in die Vorderhand gegenüber den Hauptkonkurrenten USA, Russland, China und den wichtigsten EU-„Partnern“ in Afrika und dem vorderasiatischen Pulverfass zu bringen versucht. Und wie sich die Bundeswehr dabei Schritt für Schritt weltweit in steigendem Maße in Krisengebieten klammheimlich festsetzt und dabei die einstige „friedfertige“ Bürger-in-Uniform-Kasernenarmee erst ins Kriegshandwerk einzusetzen lernt.
Dann erscheinen die U-Boot-Lieferungen an Israel in einem anderen Licht. Deutschland positioniert sich gegen die USA als dem Hauptlieferanten militärtechnischen Materials an Israel und im gesamten „Nahen Osten“. Allerdings begibt sich Israel selbst seit Langem bei der Vermeidung einseitiger US-Abhängigkeit sofort in die Abhängigkeit des politischen Hasardeurs BRD auf höchst sensiblem Terrain.
Israel nutzt die Konkurrenz zwischen den USA und der BRD, um günstig an gutes Kriegsgerät heranzukommen. Die BRD profitiert vom technologischen Transfer von Israels Waffentechnik und hat nicht zuletzt dadurch die fortgeschrittenste U-Boottechnik weltweit. Alles Vorteile für die BRD: für die Modernisierung der eigenen Marine im EU-Machtgerangel gut und fürs Geschäft gut und für die politische Vorwärtsstrategie der BRD gut. Vergleichbar vorne aufgestellt auf dem Weltmarkt sind die anderen Exportschlager der deutschen Menschen-Abschlachtungs-Industrie, vor allem zu Land, jedoch auch zu Wasser und in der Luft.
Die deutsche Linke hat jedenfalls mehr als genug Stoff, Deutschlands Waffenexporte als Absicherung seines dritten Versuchs, zu einer anerkannten Weltmachtrolle zu gelangen, in aller „antiimperialistischen“ Schärfe kritisch zu würdigen. Dagegen herrscht geradezu Schweigen im deutschen linken Blätterwäldchen, was die imperiale Dimension der deutschen Außenpolitik zur Flankierung der starken Stellung der deutschen Bourgeoisie auf dem Weltmarkt betrifft.
Dass die reaktionären Regierungen Israels bezüglich des Siedlungsbaus in der besetzten Westbank, ihrer Ostjerusalem-Politik und der gesamten Innenpolitik von Israels Opposition kritisiert und bekämpft werden kann, ohne dass diese wie in den Nachbarländern zusammengeschossen wird, hält zumindest die Option offen, dass die Israeli sich selbst eine andere handlungsfähige Regierung erkämpfen.
Jedenfalls zeigten die Wahlen vom Januar 2013 mit dem Erfolg der liberalen Partei Yesh Atid von Yair Lapid, dass statt der erwarteten Stärkung der Rechten eher ein temporärer Stimmungsumschwung in der israelischen Gesellschaft zu verzeichnen ist. Die Wahlbeteiligung von 67% sowie die vollständig zersplitterte Parteienlandschaft zeugen von der dortigen Form von „Politikverdrossenheit“. Man braucht sich nur die desolate Parteienlandschaft „dieses unseres eigenen Vaterlandes“ vor Augen zu führen, um zu verstehen, dass die Bürger in Israel wie hier und in anderen Ländern auch stets nur unglaubwürdige „kleinere Übel“ politischer Bandenbildung zur Auswahl haben.
Sich im komplexen politischen Spannungsfeld von „Nahost“ als einseitigen moralischen Richter von außen aufschwingen zu wollen, verwechselt ideologische Geisteshaltung des bürgerlichen Pazifismus mit machtstrategischem Staatsgerangel um die dortige regionale Hegemonie. Die Aufgabe der deutschen Linken bestünde darin, die Entwicklung der dortigen regionalen und globalen Konkurrenz der Weltmarktteilnehmer analytisch zu Papier zu bringen und Deutschlands Stellung hierin kritisch zu würdigen. Die humanistische Unterstützung der Unterdrückten liegt bei Amnesty International u.a. in kompetenteren Händen.
Die eben behandelte Grass'sche Walseriade erntete spontan breiten aufgeregten Widerspruch im Medien-Spektakel, weil hier das Verdrängte für viele zu grässlich zurückkehrt und den wahren Zustand der Nation anzeigt. Zustimmung kam beispielweise von zu erwartender Seite des Israel-kritischen Flügels der Partei die LINKE:
„'Grass hat recht', sagte Wolfgang Gehrcke, Außenexperte der Linken-Bundestagsfraktion. Der Schriftsteller habe 'den Mut auszusprechen, was weithin verschwiegen wurde'. Gehrcke erklärte: 'Günter Grass beschämt die deutsche Politik, die weithin damit beschäftigt ist, die diplomatischen Folgen eines israelischen Angriffs auf Iran zu kalkulieren, statt alles zu tun, um diesen Krieg zu verhindern.'“10
Der „Außenexperte“ Wolfgang Gehrcke beschämt jedenfalls die allermeisten deutschen Linken nicht.
Das Outing der deutschen Israel-Obsessionen setzte sich dann Ende 2012 fort mit den Reaktionen der deutschen Journalistenmeute auf ein Listing von Zitaten eines ihrer Vorzeigeexemplare unter den zehn schlimmsten antisemitischen und antiisraelischen Verunglimpfungen des Jahres 2012 des Simon Wiesenthal Centers11. Dass Zitate eines per Erbvorgang exponierten deutschen Journal-Mannes dort überhaupt gelistet waren, sorgte für Empörung und für eine reflexartige Verteidigung des Kollegen nach Art der Bildung einer Wagenburg, der Inhalt der Zitate stand nicht zur Debatte, da sich dann vermutlich noch so mancher „Schläfer“ geoutet hätte – und zudem: Kritik an Israel muss ja wohl doch erlaubt sein!
Die Ablenkung von den Inhalten gelang schon durch den einfachen Trick, dass die deutsche Presselandschaft unisono unterstellte, dass der Herr als Person als Antisemit gelistet worden sei und nicht Ausschnitte aus dessen regelmäßigen unausgegorenen Ergüssen zu Israel in seiner eigenen digitalen Hauspostille als antisemitische Verunglimpfungen. Unausgegoren dem Sachverhalt im „Nahen Osten“ nach, vergoren mit den antisemitischen Anspielungen, Stereotypen, Ressentiments12 der deutschen Ideologie. Zudem wurde der Meute zur Desorientierung das rote Tuch H. M. Broder vors Gesicht geschoben, wonach der Kritiker seines Lieblinks-Antisemiten13 der Souffleur des Simon Wiesenthal Centrums gewesen sei. Dabei konnte jeder bei dessen Deutschland-Safari beobachten, dass nicht mal sein Köter auf ihn hört.
Dass Herr J. Augstein die von Grass benutzte, alt überkommene antisemitische Formel der Gefährdung des Weltfriedens durch Israel (dem Juden) zustimmend aufgriff, passt in die bundesdeutsche Unbekümmertheit, mit der jeder Schritt Israels unter den Argusaugen der deutschen „Im Zweifel Linken“ herablassend denunziert wird. Wobei kein Mensch mehr zu sagen vermag, welche substantiellen Unterschiede es lechts und rings in der Israelfrage gibt. Herr A. ist seiner exponierten Stellung im medialen Getriebe wegen bestens geeignet, als Drehkreuz die antisemitischen Ressentiments der raunenden Mehrheit in die Salons zu transportieren. Augstein outete sich im Nachhinein als waschechter Antisemit14.
Bezeichnend war auf der anderen Seite das Schweigen im linken Lager, als der türkische Regierungschef Erdogan ausgerechnet bei der UNO-Konferenz „Dialog der Religionen“ Anfang 2013 „seine“ „Achse des Bösen“ aufmachte:
"So wie das für Zionismus, Antisemitismus und Faschismus gilt, ist es unerlässlich, Islamophobie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu betrachten"15.
Nicht wenige Kommentatoren in arabischen Ländern begrüßten16 die Gleichsetzung von Zionismus und Faschismus durch die aufsteigende Regionalmacht auf eine Weise, die keinen Zweifel aufkommen lässt, dass Israels Zukunft unsicherer denn je ist. Schweigen in dieser Sache bedeutet Zustimmung, wenn ansonsten jedwede israelische Aktion hechelnd einseitig kritisiert wird.
Soviel zum fortwährenden Zustand der in Deutschland offensichtlich nicht rational zu führenden Antisemitismus-Debatte. Beschäftigt man sich etwas mehr mit den ideologischen Zuständen der Berliner Republik, so gewinnt man schnell die Gewissheit, dass der geschichtsvergessene Antizionismus, wie er bei fast allen Antikriegsdemos in der Jahrzehnte langen mantraförmigen Kritik Israels unreflektiert vor sich hergetragen wird, seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 bis heute die einzige gemeinsame Klammer der meisten deutschen Linken ist. Aggressive Abwehr gegen Kritik der eigenen „antizionistischen“ Positionen ohne Fähigkeit zur Selbstkritik ist die Regel des linken – keineswegs nur deutschen – Mainstreams.
D.
Zur Absicherung von ein paar Flanken gegen Einwürfe von links bis kleinbürgerlich-liberal: Von unserer Seite wird nicht der bourgeoisen Presse das Wort geredet. Denn die herrschenden Gedanken sind nun mal die Gedanken der Herrschenden. Wenn hier so oft aus dem quasi-deutschen Staatsorgan zitiert wird, dann deshalb, weil die von linker Seite geschnittenen Kritiker der linken Geisteshaltung bezüglich Israel dort ihre Zuflucht suchten – was die gegen Kritik immunisierte linke Sektenhaltung belegt und die Herrschaften sicherlich amüsiert. Hier wird auch nicht dem Bellizismus gefrönt, wiewohl klar gestellt werden muss, dass der Buchenwald-Schwur und die überlebensnotwendige Selbstverteidigung Israel's W. Port's Akzentsetzung von 1983 bestätigen: „Der Krieg als wirklicher Befreier und Sachwalter der Menschlichkeit“.
Im Gegensatz zur deutschen Linken und Herrn Grass oder Herrn Augstein weiß der Autor über die arabischen und anderen „Völker“ und Staaten der Welt wie Israel nur Fragmente. Experten aller Couleur einschließlich linker Berufsschreiber lagen in der Vergangenheit bezüglich dortiger länderinterner und außenpolitischer Vorgänge und Tendenzen regelmäßig daneben.
Wie euphorisch begrüßten die westlichen Linken beispielsweise die Arabellion, um dann erschrocken fest zu stellen, wie gering der Anteil der Säkularisierten in jenen Staaten tatsächlich ist? In der türkischen Protestwelle 2013 wurde ebenso in das säkulare Bildungsbürgertum projiziert, während Erdogan verschwörungstheoretisch von der „Zinslobby“ raunte, die die Entwicklung der Türkei schädigen wolle, und einer seiner Minister die „jüdische Diaspora“ als einen der Strippenzieher ausmachte.
Wie kann diese zuhause irrelevante Linke dann versuchen, sich dort ohne politische, ökonomische Analyse einmischen zu wollen und einseitig Partei zu ergreifen und einem Staat, – ob Israel oder meinetwegen Mali 2012 bei der Sezession Azawads – „Ratschläge“ von deutschen politischen Sekten oder einer Kleinpartei geben zu wollen? Die Ratschläge wirken politisch grotesk. Regelmäßig läuft dabei ein reflexartiger Schulterschluss mit den Feinden des eigenen Erz-Feindes, ohne Kenntnis von und Rücksicht auf die klassenmäßige Stellung der erwählten „antiimperialistischen“ Bündnispartner.
Welcher Linker kennt sich, ehrlich gesagt, in der Bananenrepublik BRD aus? Wo findet sich eine für ein proletarisches Programm und eine einhergehende politische Strategie angemessene Klassenanalyse für hier und erst recht für anderswo? Nur alte Schlagworte und eine zersplitterte Linke. Das verweist nicht gerade auf theoretische Klarheit und konkrete Analyse der konkreten Situation der Restlinken. Soweit zur behaupteten rationalen Seite linker Kritik an Israel.
Zur darunter liegenden emotionalen Folie seien nur ein paar Fragen aufgeworfen: Wieso ist die deutsche Linke mit soviel Herzblut bis zur Verbissenheit auf Seiten der Palästinenser unterwegs? Wieso schlägt Israel so ein starker, kalter Hass entgegen und reaktionären Organisationen wie Hamas sympathisierende Hochachtung? Wieso kommt beispielsweise andererseits die sich unter der Hand islamisierende Türkei nicht mehr bezüglich der Kurdenfrage als früher gehätscheltem linkem Solidaritätsobjekt in der Kritik vor?
Jedem kontinuierlichen Beobachter der deutschen Linken fällt die extrem erbitterte antiisraelische Schlagseite der außenpolitischen linken Statements und Demo-Aktivitäten auf, obwohl es wahrhaftig genügend andere Unruheherde gibt. Eine starke in die BRD-Politik eingreifende klassenorientierte Linke, die allen „Völkern“ der Erde und insbesondere den EU-Ländern am stärksten Luft verschaffen würde, wäre hypothetisch der gangbare Ausweg aus dem Dilemma außenpolitischen verbalen Aufplusterns bei innenpolitischer Bedeutungslosigkeit.
Hier im Text wird nicht aus „Freundschaft“ so häufig und ausführlich auf Israel zurückgekommen, sondern gezwungenermaßen, weil die deutschen Zustände und der plakativ vor sich her getragene Antizionismus der deutschen Restlinken den Stoff zur Kritik – eines zumindest sekundären, „ehrbaren“ Antisemitismus – am laufenden Band vor die Füße werfen. Das Proletariat hat kein Vaterland und daher ist die Kritik des Nationalstaats als Klassenstaat und dessen Aufhebung immanenter Bestandteil der proletarischen Emanzipationsbewegung.
Bezüglich Israel ist es allerdings so, dass die selbstgewählte bornierte Partikularität einer völkisch-jüdischen Staatsgrundlage ausschließlich dem Zwang des Überlebens geschuldet war und mehr denn je ist. Eine bewusste Linke hat sich dem von Adorno geforderten kategorischen Imperativ zu stellen: im Zustand kapitalistischer Unfreiheit zumindest ein neues Auschwitz zu verhindern. In diesem Zusammenhang sollte man sich Max Horkheimers Befürchtungen beim aufziehenden Panarabismus der 1960er Jahre der Nasser-Periode erinnern, dass der sich dort nach außen auf Israel projizierende Antisemitismus – mit klaren Zuweisungen wie „Weltzionismus“ operierend – in Allianz mit den „antisemitischen Gesellschaften“ Europas für Israel tödlich werden kann.
Angesichts des sich in der heutigen islamischen Welt dynamisierenden aggressiven Antisemitismus und der durchgängigen Appeasement-Politik der EU-Staaten und insbesondere des Hegemon Deutschland gegenüber den dortigen Regimes kann die eliminatoriche Bedrohung Israels gar nicht ernst genug genommen werden. Erschreckend ist, dass die deutsche Linke die Affinität der entgrenzten Herrschaftsform, des Antiwestlertums und des eliminatorischen Charakters des Antisemitismus des deutschen Faschismus und des im 20. Jahrhundert manifest gewordenen Antisemitismus, Antiwestlertums und racketförmiger Herrschaftpraxis des politischen Islamismus partout nicht zu begreifen vermag.
Jene Appeasement-Politik der Staaten Europas gegenüber den reaktionären Regimes des islamischen Gürtels korrespondiert mit der Entfaltung der völkisch-nationalistischen, neo-faschistischen Bewegungen von Griechenland über alle Länder des Balkans und Mitteleuropas hinaus bis hin zur Westukraine und den baltischen Staaten.
Ungarn entwickelt zur Zeit das idealtypische EU-Modell autoritärer „Demokratie“. Das städtische Kleinbürgertum, die städtische Armut, die ungarische kleinbäuerliche Bevölkerung, die vor ihrer sozial-ökonomischen Vernichtung stehen, werden von ihren rechtsextremen Parteien und der rechtspopulistischen Regierung Orban zur Ablenkung von inneren Problemen mit einem Gebräu völkischer Ideologie angeheizt, das zur Lynchjustiz an Sinti und Roma, kulturellem Rassismus, groß-ungarischem National-Chauvinismus samt Ansprüchen auf Gebiete ungarisch-sprechender Minderheiten in den Nachbarländern sowie zu wirren antisemitischen Verschwörungstiraden geradezu auffordert. In all jenen völkischen Bewegungen Mittel-Süd-Osteuropas bildet der aggressive Antisemitismus den gemeinsamen ideologischen Kern.
Nimmt man hierzu die Tatsache, dass Israel im „zivilisierten“ Westeuropa als größte Bedrohung des Weltfriedens gesehen wird, dann ist die unheilige Allianz der „antisemitischen Gesellschaften“ Europas mit den zunehmend in den Bürgerkrieg abgleitenden islamischen Gesellschaften, die dem „Kampf“ gegen den „Weltzionismus“ propagandistisch die höchste Priorität einräumen, de facto schon da. Es ist wohl kaum zu übersehen, dass sämtliche westeuropäische Gesellschaften in der Krise nach rechts rücken und der Einfluss der europäischen Linken gegen null tendiert. Die katalanische Linke unterstützt die völkische Sezession Kataloniens von Spanien, der rechtsradikale Vlaamse Block will Belgien zerlegen und das schnelle Erstarken des national-chauvinistischen Front National in Frankreich künden neben den schon häufiger angesprochenen anderen reaktionär völkisch agierenden Separationsbewegungen von einem völkischen Partikularismus Westeuropas. Der Antisemitismus ist der gemeinsame Kern ihrer Ideologien.
Der in vorstehenden 4 Kapitel unerwartet lang geratene ideologische Abriss der letzten 20 Jahre deutscher Geschichte und der Linken darin belegt, wie die USA für den deutschen Staatsapparat als wieder gewonnener ererbter äußerer deutscher Feind Nummer eins stets abrufbar bereit als potentieller Eckpfeiler des Opfer-Täter-Verschiebungsmusters auf der Weltmarktebene propagandistisch eingesetzt werden kann. Und wenn es gerade passt, gilt Israel in dessen Schlepptau als Gefährdung des Weltfriedens17. Israel wurde von der europäischen und insbesondere der deutschen Linken im Laufe der beiden letzten Jahrzehnte zum „aussätzigen“ Staat, zum Juden der Staatenwelt ausgerufen.
1 Eine typisch deutsche irreführende Selbstbeweihräucherung ist der daraus gezogene Schluss der „Beliebtheit“ im neu-deutschen Kampfblatt taz vom 23.05.13: „Fritz“ weltweit beliebt
2 Siehe die Kritik im Essay von Jean Amery, Der ehrbare Antisemitismus von 1969; Das Umschwenken der meisten deutschen Linken vom Philosemitismus zum Antizionismus nach dem Sechstagekrieg 1967 wurde schon kurz in Unterkapitel 11.3. angerissen.
3 Siehe: Kosma Poli & Lee Tan: "Über die ungleichmäßigen Entwicklungstendenzen der nationalen Gesamtkapitale in Europa und die Niedergangsphase der Nationalstaaten" (9/2007)
4 Ein neuer Versuch waren die Verhandlungen um das iranische Atomprogramm in Istanbul der Gruppe 5 + 1 am 14. April 2012. Frankfurter Rundschau vom 10.04.12, Bettina Vestring, Hoffnungszeichen im Atomstreit mit dem Iran Dann gingen die Verhandlungen im Februar und April 2013 weiter. Sie verliefen alle ergebnislos. Die BRD sitzt neben den ständigen UN-Sicherheitsratsmitgliedern am Verhandlungstisch. Der neue Präsident Rohani kündigte an, in der Sache fest zu bleiben, aber diplomatischen Ausgleich zu suchen.
5 Das Pessach-Fest erinnert an den Auszug aus Ägypten, also die Befreiung der Israeliten aus ägyptischer Sklaverei. Grass wusste ganz sicher, dass alle Antisemiten ihre Pamphlete genau vor diesem Fest zu platzieren pflegen.
6 Aus: Die Welt vom 04.04.2012: Clemens Wergin, Günter Grass' seltsames Verhältnis zu den Fakten
7 Dan Diner, Antisemitismus: Der linke „Judenknacks“ der 68er 1. März 2013
8 Der deutsche Publizist, der sich am intensivsten nicht nur mit den Iran-BRD-Connection in Sache Atombombe beschäftigt, ist eines der größten Hassobjekte der deutschen Linken: Matthias Küntzel, Deutschland, Iran und die Bombe – eine Entgegnung – auch auf Günter Grass 2012, sowie Küntzel, Matthias, Die Deutschen und der Iran - Geschichte und Gegenwart einer verhängnisvollen Freundschaft, 2009, ebenda. Auf obiger Website sind eine Fülle von Artikeln zur speziellen Connection Berlin-Teheran gelistet.
9 Eine hierzu nutzbare Faktengrundlage aus der bildungsbürgerlichen Gutmenschen-Küche: Jürgen Grässlin, Schwarzbuch Waffenhandel. Wie Deutschland am Krieg verdient. Heyne Verlag 2013
10 Florian Gathmann, Philipp Wittrock, Grass' Israel Schelte: Dichter im Abseits Aus: Spiegel-online vom 04.04.2012
12 Matthias Küntzel, Jakob Augstein und der Israelkomplex Aus: Die Welt vom 14.01.2013
13 Henryk M. Broder, Brief an meinen Lieblings-Antisemiten Augstein Aus: Die Welt vom 06.12.2012
15 Türkei spielt ihre Schlüsselrolle voll aus Erdogan auf Wiener UN-Konferenz: Kritik an Zionismus, Druck auf EU Aus: EurActiv vom 01.03.2013
16 Boris Kálkoni, Arabische Medien feiern Erdogans Zionismus-Hetze Aus: Die Welt vom 04.05.2013