Einleitung

Alles sah so gut aus für Deutschland. Die EU hatte 2007 mit dem Vertrag von Lissabon jene Tiefe und Breite an Integration von 27 europäischen Nationalstaaten erreicht, die Deutschland als vertragliche Vorstufe für die Vereinigten Staaten von Europa vorschwebte.

DhD1_Einleitung.pdf
Adobe Acrobat Dokument 124.5 KB

Zur Übersicht DhD Teil 1

Die Euro-Währungsunion schien ein voller Erfolg zu werden. Deutschland stieg Jahr für Jahr auf der Beliebtheits-Skala der Staaten nach oben. Kanzlerin Merkel wurde als die beliebteste europäische Politikerin gefeiert. Ihr bescheidenes Auftreten ohne übliche Starallüren und Glamour traf die Sehnsucht der Europäer nach „rationalem“ politischem Handeln.

Dann schlug die ökonomische Krise des Weltmarkts ab 2007 auf Europa durch. Deutschland als ökonomisch übergewichtige ökonomische Vormacht der EU musste in der sich danach entfaltenden europäischen Staatsschuldenkrise erstmals in der EWG/EU-Ära offen die politische Führung übernehmen.

 

Die entsprechend der deutschen Priorität der Geldwertstabilität eingeschlagene Politik der Austerität verstetigte die wirtschaftlichen Rezessionstendenzen der schwächer entwickelten südeuropäischen Nationalökonomien ohne Aussicht auf Lösung der Krise. Das kommt bei der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der betroffenen Länder gar nicht gut an.

 

In diesem ökonomischen und politischen Umfeld tauchten seit Sommer 2011 nach und nach in den Ländern Südeuropas Karikaturen auf, in denen Bundeskanzlerin Merkel mit Adolfs Schnurrbärtchen versehen oder in NS-Uniform gekleidet war. Die deutsche Politik und Medien reagierten empört und es begann eine regelrechte mediale Schlammschlacht gegen Griechenland. Das Wort vom hässlichen Deutschen machte die Runde.

 

Im vorliegenden Text wird diesem Phänomen nachgegangen. Wie ist dieser abrupte Stimmungswechsel in Europa gegenüber Deutschland zu erklären? Wieso kam eine solche Schärfe auf? Welche Ursachen liegen ihr zu Grunde? Oder handelt es sich um ein Phantasma der anderen Europäer?

 

Um ähnlichen Fragen eine Richtung zu geben, sei eingeworfen, dass die gleiche Situation in Großbritannien anders akzentuiert wurde und wird. Hier wird Merkel mit wilhelminischer Pickelhaube karikiert. Die ausgewählten Träger dieser Haube sind in Britannien seit 1871 personifizierte Ausdrücke des deutschen Griffs nach einer Weltmachtrolle.

 

So wurde 1990 die Einverleibung der DDR durch die BRD durch einen Pickelhauben tragenden Kohl stilisiert, der mit aufgerissenem Mund gerade das Landkarten-Puzzleteil DDR verschluckt. In gleicher Weise wurde nach 1871 der Annexionskünstler Bismarck karikiert. Mit dieser Wendung wird der Blick frei für die Frage, ob und wie Deutschland in Europa seine Vormachtstellung ausbaut.

 

Erste Annäherungen an eine Antwort liefern zwei Zitate Anfang der 90er Jahre:

 

„Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen. Es kann sich künftig offen zu seiner Weltmachtrolle bekennen und soll diese ausweiten."

Kanzler Kohl in seiner Regierungserklärung 1991


“Es ist doch klar, ihr Deutschen wollt nicht Deutschland in Europa verankern. Ihr wollt den Rest Europas in Deutschland verankern.”

Maggie Thatcher, Ende 1993 im Spiegelinterview

 

Der ganze Text hebt darauf ab, den Zusammenhang dieser Zitate und deren praktische Umsetzungsversuche empirisch zu belegen, die Verlaufsformen des EWG/EU-Integrationsprozesses hierfür heranzuziehen, den Machtkampf der führenden Nationen hierin zu gewichten und die deutsche Rolle darin vornehmlich nach 1990 nachzuzeichnen. Dabei stellt sich heraus, dass es sich gegenwärtig um einen riskanten Abschnitt des dritten deutschen Versuchs der Neuordnung Europas handelt.


Um die deutsche Rolle im europäischen Integrationsprozess annähernd zu verstehen, ist es notwendig, seine Kontinuitäten mit den zwei vorhergehenden Versuchen nachzuzeichnen. Die Eigentümlichkeiten der deutschen Geschichte bedingen eine spezifische nationale Ideologie.

Die kritische Darstellung der deutschen Zustände und Ideologie nimmt die erste Hälfte des Textes ein.

Die andere Hälfte gewichtet die Außenpolitik der Berliner Republik auf dem diplomatischen und politischen Weltparkett.

 

Der erste Abschnitt stimmt mit vier Kapiteln in die Fragestellung des Themas ein. Da geht es um die Frage der aktuellen Widerkehr des hässlichen Deutschlands in Europa sowie darin eingeschlossen, die Frage der potenziellen Wiederkehr des hässlichen Deutschen. Ergänzend zeigt eine Sammlung von kommentierten Zitaten die Kontinuität der Notwendigkeit von Vorstößen Deutschlands zur Errichtung einer europäischen Großraumwirtschaft als Vorbedingung einer deutschen Weltmachtrolle. Abgerundet wird der erste Abschnitt durch die Darstellung der Kerneuropa-Strategien Deutschlands zur Bewältigung der selbst gestellten Aufgaben seiner Großmachtpolitik.

 

Der zweite Abschnitt skizziert in drei Kapiteln die Kontinuität und Brüche der jener Großmachtpolitik dienenden deutschen Ideologie: Wie die ideologische Folie zu Martin Luthers Zeiten grundlegend beschrieben wurde, wie sich insbesondere die deutsche Arbeitsideologie als Chiffre des Antisemitismus geschichtlich modifiziert erhielt und welche feudalen Relikte die gegenwärtigen deutschen Zustände enthalten.

 

Der dritte Abschnitt widmet sich in vier Kapiteln der Kritik der deutschen Ideologie der drei Versuche Deutschlands, sich eine Weltmachtrolle zu sichern. Es wird den Modifikationen der dabei eingesetzten Muster einer Opfer-Täter-Verschiebung in den nationalen Feindbestimmungen nachgegangen. Der längeren Darstellung des Vorlaufs von 1870 bis 1890, der die ideologische Grundlage legte, folgen zwei kurze kritische Skizzierungen der die zwei deutschen Versuche der militärischen Neuordnung Europas begleitenden ideologischen Muster.

Das vierte Kapitel des dritten Abschnitts nimmt die Entwicklung obiger Verschiebungsmuster in der BRD von 1945 bis 1989 ins Visier. Hierzu ist es in fünf Unterkapitel geteilt. Die Linien der Kontinuitäten und Brüche nach 1945 leiten es ein, der Verlust des Bolschewismus als des äußeren Feindes Nr. 1 folgt, danach wird die modifizierte Form der inneren Feindschaft Nr. 1 gegen den Kommunismus behandelt, sodann folgen zum Schluss zwei kurze Skizzen zu den Varianten des Sozialdarwinismus, gerichtet gegen potentielle innere Feinde Nr. 2, sowie zum Verlust des überkommenen inneren Feindes Nr. 2, des Juden.

 

Der vierte Abschnitt reißt in neun Kapiteln die Kritik der neuen deutschen Volksgemeinschaft nach 1989 an. Die ersten drei Kapitel skizzieren den dreigliedrigen Initiationsritus der neuen deutschen Volksgemeinschaft 1991. Wie die Deutschen sich im ersten Schritt mittels des Katalysators Golfkrieg II zur neuen Volksgemeinschaft zusammenschlossen, indem sie die USA zum äußeren Feind Nr.1 exponieren. Wie im xenophoben zweiten Schritt die stolzesten Deutschen in einer mörderischen Welle das Deutschsein gegen das vermeintliche Undeutsche abgrenzen. Wie im kathartischen dritten Schritt die deutschen Gutmenschen in einem Aufstand der Anständigen den Standort Deutschland vom Ruch der Ausländerfeindlichkeit reinzuwaschen versuchen. Da mit zusammenhängend zwei Kapitel: Wie einhergehend Israel zum Juden der Staatenwelt gemacht wurde. Anschließend ein Exkurs über die historische Stellung der Shoah und deren Instrumentalisierung zur Identitätsbildung der Berliner Republik. Wie die Volksgemeinschaft der neuen BRD gedeiht. Danach folgen zwei Kapitel zu Opfer-Täter-Verschiebungen bzgl. einer Außenwendung: potenzielle äußere Feinde in der EU und anderswo. Abgeschlossen wird der Abschnitt mit zwei Kapiteln, einer Zusammenfassung samt Ausblick sowie einer Kritik an der deutschen Linken als Träger der neu-deutschen Ideologie.

 

Der fünfte Abschnitt ist die kritische Darstellung der deutschen Außenpolitik auf dem Weltparkett seit 1989. Er ist in vier Unterabschnitte gegliedert.

 

Unterabschnitt V.1 eröffnet in vier Kapiteln: Zur Annexion der DDR, dann ein kleiner Exkurs zu Kapital und Diplomatie, danach zur ersten Stufe der Zerlegung Jugoslawiens sowie zum deutschen Appeasement im Golfkrieg II 1991.

 

Unterabschnitt V.2 behandelt die deutsche Sturm- und Drangperiode von 1992 bis 95 in sechs Kapiteln. Hierin geht es darum, dass Deutschland in diesem Zeitraum gleichzeitig vier Eckpunkte seiner angestrebten Weltmachtrolle anging. Eingeleitet wird V.2 mit dem Übergang vom nationalen Ausnahmezustand der Bonner- zur Normalität der Berliner-Republik. Sodann die Skizzierung der vier Eckpunkte: Deutschlands Kampf um einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat samt Veto-Recht; Bestätigung rechtmäßiger Kampfeinsätze der Bundeswehr out-of-area durch das Bundesverfassungsgericht; Deutschlands Versuch des Griffs nach der Atombombe mittels Westeuropäischer Union (WEU); Schwächung der NATO durch ihre Ausdehnung auf die mittelosteuropäischen Staaten. Abschließend die dazugehörige Zwischenbilanz I.

 

Unterabschnitt V.3 handelt in sechs Kapiteln von der deutschen Sturm- und Drangperiode II 1998 bis 2005. Zunächst geht es um den deutschen NATO-Krieg zum Herausbomben der Teilrepublik Kosovo aus der Bundesrepublik Jugoslawien. Es folgt ein kurzer Exkurs zur völkischen Separationspolitik Deutschlands in Europa. Ihm folgt Zwischenbilanz II zu Deutschlands Machtstellung nach dem Kosovokrieg. Dann seine Verteidigung am Hindukusch. Dann sein Aufbegehren gegen die USA im Golfkrieg III 2003 durch Bildung der Achse Paris – Berlin – Moskau. Abgeschlossen wird mit der Niederlage der BRD im Kampf um einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat.


Unterabschnitt V.4 umreißt den Abgesang des Abschnitt V in vier Kapiteln. In der Zwischenbilanz III geht es um Deutschlands aktuelle Stellung auf dem Weltparkett nach 2010 und seine Optionen eines Weges zu einer Weltmachtrolle. In der Zwischenbilanz IV geht es in drei Kapiteln um die Stellung Deutschlands in der EU und die Richtung des Ausbaus der gegenwärtigen deutschen Machtstellung in der EU. Zuerst wird der desolate Zustand der Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GASVP) der EU beleuchtet. Dann das politisch-ökonomische Feld der EWWU. Danach das Drängen Deutschlands Richtung VSE.

 

Das Schlusskapitel von Teil I ist der Ausblick auf Teil II des Gesamttextes. Es deutet den Rahmen der dortigen Bearbeitung des deutschen Wegs zur Vormachtstellung in Europa nach 1945 an. Nachgegangen wird den dabei zu Tage tretenden Kontinuitätslinien der deutschen Außenpolitik bezüglich des Griffs nach einer Weltmachtrolle, der Neuordnung Europas als VSE, der hiermit verbundenen Volkstumspolitik, der hiermit konzipierten arbeitsteiligen Großraumwirtschaft nach Bedingungen des deutschen nationalen Gesamtkapitals, den Konzepten einer europäischen Währungsunion.

 

Der Abschnitt V zur deutschen Außenpolitik auf Weltmarktebene – der die Hälfte von Teil I einnimmt – belegt den Zusammenhang der Zitate von Herrn Kohl und Lady Thatcher empirisch:

Deutschland greift mit harten Bandagen auf Grundlage seiner starken ökonomischen Stellung auf dem Weltmarkt nach einer politischen Weltmachtrolle.

 

Deutschland versucht, Europa nach seinem Fasson als kapitalistische Vereinigte Staaten von Europa (VSE) neuzuordnen. Hierbei geht es Deutschland nicht um das Wohlergehen der Staaten des stets im Munde geführten „Europas“, sondern darum, die VSE als Sprungbrett zur eigenen Weltmachtstellung zu nutzen.


Die Abschnitte I bis IV versuchen, die dazugehörige Grundlage der deutschen Ideologie der neu-deutschen Volksgemeinschaft historisch herzuleiten und näher zu bestimmen.

 

Die empirisch und theoretisch zu bearbeitende übergreifende Arbeitshypothese des Gesamttextes sei nicht verschwiegen: die VSE als Vereinigung von gleichen unter gleichen Nationalstaaten sind nicht machbar sondern nur als Zwangsgemeinschaft-der-Vasallen-Deutschlands-in-Europa (ZVDE).

[→ Zur Übersicht Teil 1]

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    M (Freitag, 03 Mai 2013 19:19)

    Vielleicht lohnt sich ein kurzer Blick auch auf die aktuellen Kampagnen -- im Kleid von wertbetechnisch aufgetakelten Debatten -- staatlicher und staatsnaher Einrichtungen, die mit einer Kopplung von ideologischem Style o. Lebensfuehrung mit (wenn man so will) nationaloekonomischer 'Theorie' tief in den affektiven und intellektuellen Schichten des dt. gesellschaftliochen Mainstreams aktiv sind. Diese behandeln die Europa-Frage in zivilgesellschaflicher Manier und verbreiten demokratistische Freude. Zum Teil bilden diese Einrichtungen bereits auf dem Bildungssektor feste Groessen (Stiftung Mercator) und bereiten so die Akzeptanz-Linie kommender Eliten vor, sprich: Sie lernen wie sie gegen wie auch immer klassenorientierte Kritik sprechen sollen, freilich ledigl. auf buergerlichem Niveau. Hier ein paar verkettete links dazu:

    Bundespräsident, Bürger und Stiftungen debattieren beim Bellevue-Forum
    http://www.stiftung-mercator.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung-details/article/welches-europa-fuer-deutschland.html

    Stiftung Mercator, „Ich will Europa”-Kampagne
    http://www.stiftung-mercator.de/index.php?id=1296

    „Ich will Europa”
    http://www.ich-will-europa.de/

    Wirtschaft in Europa
    http://www.ich-will-europa.de/topic/wirtschaft-europa

    Online-Debatte „Europäische Wachstumsstrategien“ auf Social Europe Journal Website
    (Friedrich-Ebert-Stiftung, Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans Boeckler Stiftung und das Europäische Gewerkschaftsinstitut)
    http://www.ich-will-europa.de/article/online-debatte-europaeische-wachstumsstrategien-auf-social-europe-journal-website

    A Modern Approach for Fair, Inclusive, Pro-active Labour Market Policies – Lessons learned from the Austrian Experience
    by Johannes Schweighofer
    (Johannes Schweighofer is a senior economist at the Austrian Ministry of Labour and Social Affairs. His main responsibilities are international labour market policies (EU, OECD, ILO) and research. He is a long-standing member of the EU-Employment Committee and the OECD Working Party on Employment.)
    http://www.social-europe.eu/2012/11/a-modern-approach-for-fair-inclusive-pro-active-labour-market-policies-lessons-learned-from-the-austrian-experience/

Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

Wertkritischer Exorzismus
Hässlicher Deutscher
Finanzmarktkrise