Erste begriffsklärende Thesen zum Konfliktfeld Israel-Palästina

Protokoll einer Diskussion

von Emil Neubauer, Daniel Dockerill, Ralph Odd

Vorbemerkung: Die vorliegende begriffsklärende Vorarbeit zur Problemlage Israel-Palästina soll ein Schritt sein zur Entwicklung einer klassenorientierten Position in der Israel/Palästina-Frage. Durch die hierin gegenwärtig aufgeheizte Stimmung innerhalb der Partei DIE LINKE sieht sie sich zur Positionierung gedrängt, wenngleich die Linke wahrhaftig andere Aufgaben hätte, wenn sie sich denn erinnern würde, wo der Hauptfeind steht. Die proletarische Linie argumentativ grundlegend herauszuarbeiten, ist Aufgabe einer sich organisierenden Programmdebatte aller bewussten Klassenkräfte (siehe die Einleitung unserer programmatischen Eckpunkte). Unsere ersten Bemühungen begrifflicher Klärung sollen Widerspruch und Kritik befördern – nicht zukleistern.

1.      Wir gehen zunächst der häufig geäußerten Meinung/Frage nach, ob das Judentum ein Volk, eine Religion, ein Kult, Nation…ist? Die Frage wäre politisch müßig, wenn sie nicht im Kontext des Existenzrechts Israels gestellt würde. Entweder sind die Fragesteller theoretisch unbeschlagen oder tun nur naiv. Denn die Reflexion ergibt, dass Volk und Nation im heutigen Sprachgebrauch Produkte der Moderne sind. Sie können nur ideologische Konstrukte sein, da die bürgerliche Gesellschaft ihre Ordnung als naturgegeben begreift und daher nicht zu begründen braucht. Historisch sah sich jedenfalls das Ostjudentum im Zarenreich und in der österreichischen K&K-Monarchie vor dem ersten Weltkrieg selbst als Nationalität.[1] Spätestens die Shoa hat die Juden Europas überlebensnotwendig zum (Staats-)Volk zwangsvergemeinschaftet. Die proletarische Linie muss die tatsächliche Klassenspaltung aller modernen Völker analytisch erfassen und demgemäß ihre Strategie und Taktik zur Bildung des Klassenbewusstseins in der Permanenz der Tageskämpfe entwickeln.

 

2.      Zu einer Nation im modernen Sinne werden die Juden in Israel durch das zionistische Siedlungsprojekt mit der schließlichen Staatsgründung Israels. Sie machte alle seine Bewohner formal zu einem Staatsvolk. Die folgende Herstellung des Binnenmarkts erzeugte als unsichtbare Hand zugleich das Volk als Wirtschaftsbürger mit einer Volkswirtschaft. Die darin gesetzte Homogenität Volk verdeckt nicht nur die Klassenspaltung, sondern wirft zugleich die nationale Frage in neuer Weise auf. Denn tatsächlich lebt in Israel, wie in allen modernen Nationalstaaten, eine Mannigfaltigkeit von Nationalitäten unterschiedlicher religiöser Kulte. Gerade die nach der Staatsgründung nach Israel eingewanderten Juden selbst sind aus aller Herren und Mullahs Ländern gekommen. Die dortige Diskriminierung / Unterdrückung erzeugte einen Zusammengehörigkeitszwang des Judentums. Dieser äußere Zwang kann ihre mitgebrachte nationale Inhomogenität nicht überbrücken. Dies betrifft ihre Sprache, ihre Kultur. Nach der proletarischen Linie kann die Mehrheit eines Staatsvolks den nationalen Minderheiten nicht ihre Sprache als Amtssprache aufoktroyieren, alle religiösen Kulte sind als gleichberechtigt frei ausübbar anzuerkennen, politischer Druck zur Assimilation muss unterbunden werden. Allgemein gesprochen bedeutet dies die Gleichberechtigung der Nationen eines Nationalstaats. Die Grenze zum bürgerlichen nationalen Standpunkt wird überschritten, wenn die benachteiligte oder unterdrückte Nationalität: von der einfachen Gleichberechtigung ihrer kulturellen Eigenarten, zu deren besonderer Pflege übergeht, also für ihre besondere Kultur Privilegien einfordert. Es ist dies u.E. gerade die Pointe der Argumentation: das Proletariat unterstützt die unterdrückte Nationen immer nur bis zu jener Grenzlinie, wo es alle politischen Schranken für das Ausleben der nationalen Besonderheiten negiert, aber über diese bloß negative Bestimmung geht es niemals hinaus, es verweigert jede Affirmation solcher Besonderheiten. Die Frage ist also nicht, wie vollständig oder unvollständig die kulturelle Autonomie denn sein darf. Das Proletariat strebt vielmehr deren vollständige Beseitigung an, besteht aber darauf, dass der einzige Zwang, den es dabei geben darf, der berühmte stumme Zwang der Verhältnisse ist. Und es besteht gerade deshalb darauf, weil dieser Zwang umso effektiver wirkt, je weniger äußerliche, politische Zwänge ihm beigemischt sind.[2] An dieser Klassenlinie sind die sozialen Bewegungen und politischen Akteure aller Nationalstaaten vom proletarischen Klassenstandpunkt zu messen – auch in Israel und Palästina trotz deren unabgeschlossener Staatsbildung.

 

3.      Die Scheinfrage nach der Künstlichkeit Israels (mit der impliziten Konnotation des „Siedlerstaates“) suggeriert, dass es natürlich verlaufende Nationenbildung gibt oder gegeben hat. Tatsächlich ist die naturwüchsig kapitalistisch getriebene Gründung der Nationalstaaten die politische Tat der Völker – also artifiziell = von Menschenhand und Kopf geschaffen, wie jede menschliche Vergegenständlichung. Und Einwanderungswellen von Siedlern aus vielen Ländern waren in den nationalen Bewegungen so mancher Nationalstaaten treibende Elemente der Staatsgründung. Der Unterschied zu Israel ist, dass dort seit 1948 bis heute unter den Augen der Welt die territoriale Staatsgrenze als wesentliches Merkmal von Staatlichkeit unabgeschlossen ist. Wie „natürlich“ die Nationen entstehen, ließ sich die letzten 20 Jahre verfolgen an Slowenien, Kroatien, Bosnien-H, Montenegro, insbesondere Kosovo, Mazedonien, jetzt Süd-Sudan. Demnächst Nordirak-Kurdistan; WANN West- und Ostlybien. Wallonien und Flandern, vielleicht auch Pandania und Restitalien. Katalonien, Baskenland und Restspanien? Eine klassenorientierte Linke in Deutschland hätte die Wühlarbeit Deutschlands in allen diesen Ländern herauszuarbeiten und die Konfliktlinien der Hauptantagonisten der EU und insbesondere Deutsch-EUROlands sowie des Weltmarkts bei dieser Nationenbildung zu untersuchen. Die Positionierung der LINKEn zur erfolgten Anerkennung des Südsudans durch die Bundesregierung wird wiederum zeigen, wie weit sie sich die Staatsraison Deutschlands als ehrlichster Völker-Makler der Welt zur eigenen Generallinie macht und sich damit selbst regierungsfähig geriert (der ideologische Rückgriff auf diesen selbstgestrickten Teutschen Mythos ist die einzige aktuell denkbare Strategie eines militärischen Zwergs). Dieser weitere Schritt zur Profillosigkeit der LINKEn verkennt, dass bei dem sich beschleunigenden weltweiten politischen Rechtsruck aufgrund der laufenden Weltwirtschaftskrise – im EURO-Raum aktuell in der Gestalt der Staatsschuldenkrise – kein politisches Lager Deutschlands die LINKE als parlamentarisches Zünglein an der Waage braucht. Die LINKE geht den Weg der klein-bürgerlichen – nationalen – Auffassung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker in Sezessionsfällen. Die proletarische Linie rät den Arbeitern der betroffenen Nationen, um der besseren Klassenkampfbedingungen willen, zum Verbleib in einem Nationalstaat.

 

4.      Der Zionismus ist historisches Produkt der Zuspitzung der Konkurrenz der Nationen – insbesondere Kontinental-Europas – nach 1871. Der Antisemitismus wurde zunehmend Herrschaftsideologie der Bourgeoisien der führenden Länder Europas und die Pogrome am Ostjudentum erzeugten reflexartig den Zionismus als Befreiungsideologie. Dieser bewies als jüdische Befreiungsbewegung seine praktische politische Tauglichkeit und erreichte mit der Gründung des Staates Israel nach 50 Jahren sein Ziel. Dabei war die Todesangst der dem Furor teutonicus entkommenen Überlebenden der Shoa die unaufhaltbare, entscheidende Kraft dieser Staatsgründung. Denn ihre Einwanderung nach Palästina / britisches Mandat war getrieben vom unbedingten Überlebenswille. Es eröffnete die Aussicht, aus eigener Anstrengung die Negation als Mitglieder der menschlichen Gattung – welche die im Rassenwahn regressiv geeinte Kulturnation Deutschland dem europäische Judentum individuell wie kollektiv zuwies und liquidatorisch vollstreckte – in der Staatsgründung durch die eigene Tat aufzuheben. Der militärische Arm des Zionismus wurde zum Rückgrat der israelischen Armee. Damit hat der Zionismus als äußerst inhomogene Ideologie jedenfalls für großisraelische Pläne ausgedient. Und hinter letzteren steht nur eine kleine Minderheit der Israelis. Welche Regierung sollte dann riesige Ressourcen einsetzen, um Räume im größeren Maße erobern zu wollen, ohne massenhaft Siedlungswillige? Der Landhunger der agrikulturorientierten Kibbuzbewegung verschwindet mit deren Niedergang oder Übergängen zu städtischen Kibbuzformen, Israel ist High-Tech-Standort geworden. Auf dem Territorium Israel haben notfalls alle Juden dieser Welt Platz. Der Zionismus konnte einen jüdischen Staat nur dort errichten, wo die moderne Nationenbildung noch nicht begonnen hatte und ein kapitalistischer Binnenmarkt noch in den Anfängen steckte. Das waren um 1900 der gesamte Kontinent Afrika sowie das osmanische Reich, welches den Tiefpunkt seiner Niedergangsphase erreicht hatte. Was lag da näher als das mythische Palästina. Der Zionismus ist zwar die falsche – nämlich bürgerliche – Antwort auf die Antisemitenfrage, von deren Falschheit seit der Shoa es sich aber verbietet, sich darüber hämisch, verächtlich oder empört das Maul zu zerreißen. Moshe Zuckermann benennt jenen eklatanten Widerspruch des Zionismus: Einerseits moderne Staatswerdung des Judentum (Säkularität), andererseits das Jüdischsein religiös begründet. Diese Besonderheit Israels nachvollziehbar zu machen und als klassenorientierte Linie dessen Verteidigung trotz Bauchgrimmen auf allen Seiten zumindest begreifbar zu machen, ist der Hauptzweck dieser Thesen.

 

5.      Der Antizionismus lebt fast mythisch von der Behauptung israelischer Großstaatsträume – sonst entwickelte er nicht diese Dynamik seit der Staatsgründung Israels. Wer Bestrebungen nach einem Großisrael (bis zum Euphrat?) als israelische Staatsdoktrin unterstellt, sollte den Sinn dieses Planes erläutern. Israel als ökonomischer Winzling des Weltmarkts wäre heilfroh, seine Grenzen zum Abschluss zu bringen. Dass der heutige Antizionismus den historischen Bruch des Antizionismus vor und nach Shoa und Staatsgründung überhaupt nicht reflektiert, sondern einfach als Kontinuität behandelt, verweist auf leere Begriffshuberei jenseits einer historisch-genetischen Analyse. Denn bis 1933 war die klassenorientierte antizionistische Linie richtig, da die berechtigte Überzeugung herrschte, dass die Judenfrage wie alle nationalen Fragen durch die proletarische Revolution tendenziell hinfällig werden würde. Nach der Shoa stellt sich das Problem anders. Isaac Deutscher reflektiert seinen ideologischen Bruch mit dem Antizionismus 1977 so: „Meinen Antizionismus, der auf meinem Vertrauen in die europäische Arbeiterbewegung basierte, oder allgemeiner, auf meinem Vertrauen in die europäische Gesellschaft und Zivilisation, habe ich natürlich längst aufgegeben, denn diese Gesellschaft und diese Zivilisation haben es Lügen gestraft. Wenn ich in den zwanziger und dreißiger Jahren statt gegen den Zionismus anzugehen, die europäischen Juden aufgefordert hätte, nach Palästina zugehen, hätte ich womöglich geholfen, einige Menschenleben zu retten, die später in Hitlers Gaskammern ausgelöscht wurden. Für die Überreste der europäischen Judenheit – und wirklich nur für sie? – ist der jüdische Staat zur historischen Notwendigkeit geworden. Darüber hinaus ist er eine lebendige Realität … Dennoch bin ich auch heute kein Zionist.“[3]

 

6.      Die Shoa ist worst case des Zivilsationsbruchs der Moderne – jedenfalls aus historisch-materialistischer, also proletarischer Sicht. Nach Marxscher historisch-genetischer Manier gilt es wie immer, die historische Entwicklungslinie herauszuarbeiten, die in der Shoa kulminiert. Als erstes ist das Verhältnis des Bürgertums zum Judentum zu benennen: Das Judentum Europas begrüßte die Aufklärung (1. Modernes Emanzipationsversprechen) und entwickelte sie aktiv und emphatisch selbst mit. Das Judentum trieb die Nationenbildung (2. modernes Emanzipationsversprechen) aktiv mit voran. Beide Versprechen werden schon vor 1914 eklatant gebrochen. Die kleinbürgerlichen Ideologen Europas und insbesondere des feudalen Deutschlands wandten ihren verkommenen Aufkläricht voller Ressentiments gegen das Judentum und stritten die Möglichkeit ihres nationalen Emanzipationsbestrebens schlichtweg ab. Im Zuge der imperialistischen Frühphase schlägt der Judenhass in Europa in manifesten Antisemitismus um und erweist sich als ideales ideologisches Herrschaftsinstrument der Bourgeoisien aller Länder. In dieser Phase dynamisiert sich die „Zerstörung der Vernunft“ in den imperialistischen Ländern – insbesondere die Geistesgrößen Deutschlands taten sich dabei hervor. Georg Lukács belegt dezidiert deren Entwicklungsgang und Kohärenz mit der Kulmination im Denken und Handeln des deutschen Faschismus.[4] Was das Verhältnis von Proletariat und Judentum angeht, so besiegelt das Versagen der proletarischen Weltrevolution den Vernichtungsfeldzug gegen das europäische Judentum (3. Modernes Emanzipationsversprechen – Aufhebung der nationalen Frage einschließlich des Antisemitismus im Zuge der Aufhebung des Privateigentums und der Klassenspaltung und somit der Nationalstaaten). Das Versagen der Aufklärer und liberalen Nationalisten sowie des Proletariats vor 1933 und die Shoa sind zusammenhängende sich bedingende geschichtliche Momente. Die Shoa ist ein nicht rückholbarer Zivilisationsbruch der Moderne. Die Kontinuität und Kohärenz der europäischen Geschichte als vorgestellter emanzipatorischer Entwicklungsweg ging unwiderruflich zu Grunde und entblößte sich als ideologisches Phantasma. Die europäische Zivilisation erwies sich als allzu dünne Firnisschicht und mahnt uns zunehmend vor der Wucht der Barbarei des losgelassenen vergesellschafteten Menschentieres. Dass das Bürgertum den Zusammenbruch all seiner strahlenden Versprechungen nicht reflektieren mag, entspricht seinen Klasseninteressen.

 

7.      Zur Selbstkritik des Verhältnisses von Kommunismus und Shoa. Die europäischen Reste der historischen Arbeiterbewegung sind in ihren Strömungen und gewerkschaftlichen und politischen Organisationen überwiegend blind, was den Zusammenhang von Shoa und Zertrümmerung der revolutionären Arbeiterbewegung Europas betrifft. Die sich mit dem Ende des ersten Weltkriegs zuspitzenden Klassenkämpfe samt dem stürmischen Anwachsen des Klassenbewusstseins und vor allem des Klassenhasses überforderte die sich gerade herausbildenden revolutionären Führungen der nationalen Arbeiterbewegungen. Sie vermochten den sich damit eröffnenden politischen Handlungsspielraum für die proletarische Klasse nicht zu nutzen, sie versagten politisch. Dementsprechend waren die klassenorientierten Kräfte vor 1933 auch theoretisch – mit wenigen Ausnahmen wie Thalheimer und Trotzki – außerstande, die Konsequenzen des Faschismus gerade für die revolutionären Kräfte in Europa analytisch vorwegzunehmen. Der Wert ihrer Analysen lässt sich am chaotischen Schlingerkurs der Praxis der Komintern nach 1923 messen. Kein Wunder, da die KPn der europäischen Länder den opportunistischen Kotau vor Stalin machten und sich theoretisch und praktisch selbst entwaffneten in ihrer Verteidigung des „Sozialismus in einem Lande“ und ihrer Volksfrontpolitik. Die Großbourgeoisie habe Hitler in den Sattel gehoben, hieß es dann. Wo war denn sein proletarischer Widerpart? Die gewaltigen proletarischen Kräfte insbesondere in Deutschland wie die der KPn der Komintern versagten kläglich in der historisch möglichen und überlebensnötigen Bildung der Einheitsfront der gespaltenen Arbeiterbewegung. Dass vor allem die sozialdemokratischen wie gewerkschaftlichen Führungen diese Initiative ergreifen würden, war undenkbar. Die chauvinistische Kriegstreiberrolle der SPD ab Kriegsbeginn 1914, ihre Speichelleckerrolle am Ende des Krieges, ihre politisch konterrevolutionäre Funktion bei der Niederschlagung der revolutionären Flut zwischen 1919 und 1924, dies alles waren geschichtliche Vorgaben, die eine Einheitsfront durch die SPD Führung ausschlossen. Sie zog sich auf den ihr eigenen Legalismus zurück. Und KPD- und Komintern-Führung und Apparat in all seinen Gliederungen? Sie stellten die Weichen gegen die Einheitsfront nicht erst mit der Sozialfaschismusthese, sondern die ganze Weimarer Zeit waren die klassenbewussten Kräfte vom Hass gegen den SPD-Verrat getrieben, anstatt ihn zu zügeln und klug für den Klassenkampf einzusetzen. Das Versagen des revolutionären Proletariats in Deutschland in Fragen der Einheitsfront besiegelte sowohl die blutige Ausrottung des proletarischen Klassenbewusstseins der europäischen Arbeiterbewegung als auch die Vernichtung des europäischen Judentums. Die europäische Linke Westeuropas nach 1949 konnte nur noch der wirkungslose Nachhall der Zertrümmerung der geschichtlichen Wirkmächtigkeit des Proletariats sein. Eine aktuelle klassenorientierte Bewegung wird nicht umhinkommen, die historisch unwiderrufliche Vernichtung der revolutionären proletarischen europäischen Arbeiterbewegung in ihrer Tiefe und Breite zu erfassen. Dann wird der Zusammenhang zwischen der Shoa und dem historischen Versagen des Proletariats insbesondere in Deutschland deutlich.

 

8.      Einstaatenlösung oder zwei Nationalstaaten? Heutige Fürsprecher der Einstaatenlösung führen hierzu in ihrer Argumentationsnot gerne prominente jüdische Intellektuelle ins Feld. Dies ist ein Musterexempel leerer Abstraktion. So richtig diese Vorstellung in dieser Allgemeinheit auch ist: es reicht nicht, dass der Gedanke zur Wirklichkeit drängt, die Wirklichkeit muss zum Gedanken drängen. Daher mag eine politische Position zum rechten Zeitpunkt einschlagende Wirkung erzielen, um im nächsten Augenblick hinfällig, weil wirkungslos, und somit falsch zu werden, da sich ihr historisches Zeitfenster unwiderruflich geschlossen hat. Jedenfalls drängt heute die Forderung nach der Einstaatenlösung auf keiner Kontrahentenseite zur Wirklichkeit, sie hat sich faktisch erledigt. Dies war nach der Staatsgründungsphase anders und die Einstaatenvariante fand daher viele Befürworter. Immerhin sah sich Israel damals selbst als sozialistischen Übergangsstaat und die Rote Armee stand beruhigender Weise an der Elbe und bis nach Wien. Und viele Momente sprachen damals dafür: gegründet wurde Israel nicht von einer Bourgeoisie – sondern von zwangsproletarisierten Juden aller europäischen Länder. Grund und Boden war nicht in privater Hand – der Bodenfonds zionistischer Organisation war die Vorform eines nationalen Bodenmonopols. Die Kibbuzbewegung war mehrheitlich sozialistisch orientiert. Die Kibbuzim lebten in Vollgenossenschaften, sie lehnten Lohnarbeit allgemein ab. Die Kibbuzim waren Milizionäre und wurden zum Rückhalt der israelischen Armee. Die Gewerkschaft Histadrut organisierte die Sozialkassen des Land- wie Stadproletariats, gründete Unternehmen in vielen Branchen in Gewerkschaftsbesitz. Eine große Mehrheit identifizierte sich mit der linkssozialistischen Arbeiterpartei als politischem Arm und als Regierungspartei. Die Hoffnungen stellten sich als Illusionen heraus. Israels Übergangsversuch geriet in die Sackgasse wie die anderen Anläufe auch. Israel entwickelte sich sozial-ökonomisch zu einem normalen Staat auf kapitalistischer Grundlage. Politisch bleibt Israel notgedrungen bei seiner Besonderheit stehen, seinen jüdischen Charakter religiös zu erklären. Entweder hebt der Kommunismus die „Judenfrage“ auf wie alle anderen nicht nur nationalen Fragen oder der sich dynamisierende Weltbürgerkrieg geht zum Krieg aller gegen alle über. Im letzteren Fall ist es für die Juden dieser Welt allemal besser, im bewaffneten eigenen Ghetto zu sitzen, als in einem binationalen Palästina wieder ins Ghetto der anderen gesperrt zu sein. Die proletarische Linie vermag die freiwillige Nationenbildung eines Volkes in Form ihrer selbstgewählten nationalen Besonderung als vollendeten Demokratismus zu akzeptieren. Sie weiß zugleich um die historische Sackgasse, in die dieser Weg der bornierten nationalen Vollendung die Nation treiben wird – in diesem historischen Dilemma der Wahl zwischen Pest und Cholera steckt Israel.

 

10. Juli 2011

Emil Neubauer, Daniel Dockerill, Ralph Odd

Mitglieder der Partei DIE LINKE

Mitglieder der proletarischen Plattform



[1] Lenin: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage. In: Lenin Werke, Bd. 20, S. 4 (ein Download dieses Textes findet sich hier). Sowie Ber Borochow: Die Klasseninteressen und die nationale Frage  (http://www.zionismus.info/grundlagentexte/stroemungen/klasseninteressen.htm)

[2] Vgl. hierzu Lenin, a.a.O. S. 19ff.

[3]  Isaac Deutscher: Die ungelöste Judenfrage. Zur Dialektik von Antisemitismus und Zionismus. Berlin 1977; zitiert nach Theodor Bergmann: Der 100-jährige Krieg um Israel. Eine internationalistische Position zum Nahostkonflikt. Hamburg (VSA), 2011, S. 21.

[4] Vgl. Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler. Deutsche Erstausgabe Berlin (DDR), 1954. Auf mxks gibt es das erste Kapitel („Über einige Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands“) online.

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    G (Samstag, 06 August 2011 16:43)

    Liebe Genossen,

    Einen Punkt möchte ich als Frage vorweg schicken: An wen adressiert ihr diesen Text? Geht es darum, diese Positionen linken Intellektuellen gegenüber deutlich zu machen? Dann ist er sicherlich im Gros gelungen (zur Kritik komme ich gleich ja noch), aber er setzt einiges Wissen an marxistischer Theorie voraus, das in den breiteren Schichten des Proletariats heute so sicherlich nicht ausreichend vorhanden sein dürfte.
    Dennoch muss ich gestehen, dass ich persönlich die Sprache sehr ansprechend finde, bin da aber vielleicht nicht stereotyp genug.

    Unter 1 habt ihr sowohl die Zwangsvergemeinschaftung als auch die ideologische Konstruktion des Volks treffend dargestellt, allerdings quält mich auch hier die Frage nach dem Existenzrecht Israels.
    Wie sieht ein solches Recht denn aus? Ist es ein moralisches Recht, ein juristisches?
    Ich würde als Gegenposition einwerfen: Da ein modernes staatliches Gebilde nichts sein kann als der politische Ausdruck der bürgerlichen Klassengesellschaft, verfügt überhaupt kein Staat über irgendein Existenzrecht. Seine Existenz oder Nichtexistenz hängt schlicht davon ab, ob er sich selbst sichern und behaupten kann oder nicht. Für mich ist die Formulierung des Existenzrechts des Staates ein ideologisches Konstrukt. Staaten haben keine Rechte, Menschen jedoch zu gleichen Teilen sehr wohl (in der klassischen Auffassung des Naturrechts Freiheit und Sicherheit) und von diesen können sie den Anspruch auf einen Staat ableiten. Ob dies jedoch aus marxistischer Sicht sinnvoll argumentativ zu verfolgen, lasse ich einmal dahingestellt.

    Zu 2:
    Wie ist das Spezifikum des Staates Israel als Staat des Judentums mit den dazugehörigen Privilegien vereinbar mit dem von euch vorgetragenen leninschen Standpunkt? Wenn einer der Kulte, wenn auch historisch bedingt, durch die Verfassung besonders herausgehoben ist, wie kann dann von Gleichberechtigung der in Israel lebenden Nichtjuden die Rede sein?
    Die Sicherung des Zufluchtsortes für das jüdische Volk muss in Gleichheit gewährleistet werden.
    Was meint ihr hier mit dem „Stummen Zwang der Verhältnisse“ in Beziehung zu politischen Zwängen? Sind die äußeren Zwänge hier als Einmischung anderer Staaten o.ä. zu verstehen oder steht die Politik außerhalb des Stummen Zwangs? Dies wird hier nicht ausreichend deutlich. Haben nicht alle Zwänge eine politische Dimension?

    Zu 3: Vollkommen klar und d’accord

    Zu 4: Ich würde den Antisemitismus als Produkt des Kapitalismus sehen, der sowohl Proletariat als auch Bourgeoisie betrifft. Damit sichert er natürlich die Herrschaft der Bourgeoisie de facto ab. Herrschaftsideologie klingt aber eher nach einer bewusst in die Welt gesetzten und bewusst eingesetzten Lüge.
    Ich finde den Zionismus zu Beginn zu einseitig dargestellt als Befreiungsbewegung so problematisch, da zum Beispiel eine der nötig zu stellenden Klassenfragen die Frage nach dem Abkauf des Großgrundbesitzes ist.

    Zu 5: Was Antizionismus nun aber eigentlich sein soll, wird nicht deutlich. Ist wer einen säkularen Staat Israel fordert demnach schon ein Antizionist oder erst Forderungen nach der Einstaatenlösung? Warum der Antizionismus von den Phantasien über Großmachtsträume leben sollte, wird nicht ersichtlich.
    Zu 6: D’accord

    Zu 7: Es wäre schön, mehr zu erfahren, was genau an der These von der Hitler einsetzenden Großbourgeoisie (zu Recht!) kritisiert wird

    Zu 8: Warum sich die Einstaatenlösung eurer Ansicht nach erledigt habe, wird nicht ausreichend belegt. Die Polemik am Anfang gegen die Argumentlosigkeit ist mir so noch zu platt.

    Was ich generell allerdings noch anmerken möchte, ist die Tatsache, dass die palästinensische Bevölkerung, als auch die arabische Minderheit in Israel faktisch in diesen Thesen nicht existent sind, also die realen sozialen und politischen Leiden nicht aufgegriffen und betrachtet werden, geradezu so als seien sie nicht existent. Dies sollte unbedingt entsprechend korrigiert und eingearbeitet werden, denn diese Menschen verdienen unsere Solidarität ebenso sehr.

    Auch die Entwicklung der Zersplitterung der israelischen Sozialdemokratie und der neuerliche Rechtsdrall der herrschenden israelischen Politik verdienen noch eine kurze, aber sehr kritische Betrachtung.

    Sicherlich könnt ihr nun einwenden, dass dies nicht mehr sehr „Begriffsklärend“ ist, doch ist dies der Text meiner Meinung bereits jetzt schon nicht, sondern bleibt da sein Versprechen aus dem Titel noch etwas schuldig, stellt dafür aber umso mehr den historischen Bezug heraus.

    Bitte verzeiht, dass ich die Vorzüge nun nicht noch klarer herauskehre, aber ich denke, die mir kritisch erscheinenden Punkte nützen euch mehr. In diesem Sinne verbleibe ich bis hoffentlich bald

    mit kommunistischem Gruß
    G

Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

Wertkritischer Exorzismus
Hässlicher Deutscher
Finanzmarktkrise