Zu den Sozialversicherungen im Allgemeinen und zur Arbeitslosenversicherung im Besonderen

Von Dr. H.

 



Die Linke ist vor allem die Partei der parlamentarisch gewordenen Opposition gegen Agenda 2010 und Hartz IV, also gegen den von Rot-Grün in die Wege geleiteten radikalen Umbau des Systems der sogenannten Sozialversicherungen. In dessen Zentrum stand die Reform der Arbeitslosenunterstützung: Zusammenstreichung der Anspruchszeiten für Arbeitslosengeld (heute firmierend als ALG I), Wegfall der Arbeitslosenhilfe etc. pp.

Die Opposition dagegen, namentlich soweit sie in den Gewerkschaften fußgefasst hat, nimmt in der Angelegenheit jedoch bis heute nahezu ausschließlich mit deren plattem Augenschein Vorlieb: der gravierend miserabler gewordenen Behandlung, die sich die unmittelbar Betroffenen seither gefallen lassen müssen, und der auf dieser Grundlage wieder massenhaft auftretenden Armut, die mittlerweile auch dem verstocktesten Optimisten ins Auge springt. Jene Betroffenen werden dabei als gesonderte soziale Spezies aufgefasst, um die man links sich „kümmern“ muss, weil man doch der Anwalt der „Schwachen“ ist.

 

Nicht begriffen wird, dass der Teil der Bevölkerung, der, weil ohne entlohnte Beschäftigung, auf Unterstützung angewiesen ist, einen unabdingbaren Bestandteil des Lohnabhängigendaseins überhaupt ausmacht. Wegen eben dieser Begriffsstutzigkeit aber funktionierte es so wunderbar, dass die Gewerkschaftsmeute im Jahre 2003, obwohl ihr gewiss nichts Gutes schwante, weitgehend stillhielt, bis Schröders Gesetzespaket parlamentarisch in trockenen Tüchern war.[1] Was möchte man dafür geben, dass sie wenigstens geahnt hätte, welchen tiefen Griff in ihre Streikkasse ihr Kanzler damit tat.

 

Dass die Operation überhaupt in dieser rein parlamentarischen Weise über die Bühne gehen konnte, hatte allerdings vor allem auch damit zu tun, wie die Sozialversicherungen generell verfasst sind, nämlich als staatliche bis halbstaatliche und jedenfalls nicht als Angelegenheit in alleiniger Verantwortung derjenigen, um deren Sicherung es darin geht. Was die Arbeitslosenunterstützung angeht, so war sie immerhin noch bis in den ersten Weltkrieg hinein allein Sache der Gewerkschaften, ab 1927 aber als letzte der Sozialversicherungen (es ist naheliegenderweise diejenige, die dem Bourgeoisherzen die größten Schmerzen bereitet) schließlich auch in halbstaatliche Regie übergegangen. Und dafür, dass die Unternehmen sich nun an der Finanzierung halbe-halbe beteiligen, dürfen sie von da an auch bei der Verwaltung der Gelder gehörig mitreden.

 

Bedenkt man den wesentlichen Zweck gewerkschaftlicher Organisation, nämlich die Minimierung, wenn nicht Ausschaltung der Konkurrenz unter den Lohnabhängigen; bedenkt man weiter, dass „der Intensitätsgrad“ dieser „Konkurrenz … ganz und gar von dem Druck der relativen Übervölkerung abhängt“, d.h. von jener Masse an unbeschäftigter Arbeitskraft, die auf die beschäftigte drückt und die nach dem von Marx aufgedeckten „Naturgesetz der kapitalistischen Produktion“ das Kapital selbst sich immer entsprechend der jeweiligen Konjunktur produziert; dass daher die erste Aufgabe jeglichen gewerkschaftlichen Zusammenschlusses zu sein hätte, „eine planmäßige Zusammenwirkung zwischen den Beschäftigten und Unbeschäftigten zu organisieren“ um „das ‚reine‘ Spiel jenes Gesetzes“ gehörig zu stören (alle kursiven Zitate MEW 23, S. 669 f) – bedenkt man dies alles, dann kann man wohl mit einigem Recht sagen, dass die hiesigen Gewerkschaften seit gut achtzig Jahren im wesentlichen ihren Zweck verfehlen.

 

Unsere proletarische Plattform sollte dies nachdrücklich zum Thema machen, zumal die Frage: „Weg mit Hartz IV! – Und was dann?“ in der Linken immer häufiger gestellt wird und die krudesten Antworten provoziert. Jene erste Losung, der die Partei die Linke zu einem guten Teil ihr Dasein verdankt, hatte ihre agitatorische Berechtigung, führte aber zugleich immer schon insofern in die Irre, als sie verkannte, dass Schröders Agenda in der Logik des Systems lag, das die Sicherung der Lohnabhängigen in fremde Hände legt. Der Programmentwurf schweigt sich zu diesem Problem aus und eiert rum. Einerseits heißt es da:

 

„Auch bei Arbeitslosigkeit müssen die sozialen Leistungen den vorher erreichten Lebensstandard annähernd sicherstellen.“ (Programmentwurf, IV.1, Soziale Sicherheit im demokratischen Sozialstaat, S. 17)

 

Und anderseits unmittelbar anschließend:

 

„Wir fordern daher: Hartz IV muss weg.“

 

Nun ja, „daher“: Hartz IV schloss ein zum einen die Kürzung der Anspruchszeiten auf das am vorherigen Einkommen (mehr schlecht als recht) orientierte Arbeitslosengeld (jetzt ALG I) und zum andern die Ersetzung der (ebenfalls mehr schlecht als recht) am Bedarf orientierten (und keineswegs schikanelosen) Arbeitslosenhilfe durch das jetzige ALG II, das zwar auch irgendwie „am Bedarf orientiert“ ist, jedoch (einmal abgesehen von der Warmmiete) nicht an dem des oder der konkret Betroffenen, sondern am Bedarf einer vollends bürokratisch-fiktiven Person. Vor wie nach Hartz IV aber war bzw. ist der entsprechende Geldfluss gekoppelt mit Pressionen, sich zu mehr oder weniger flexiblen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen.

 

Und wie will die Linke „auch bei Arbeitslosigkeit … den vorher erreichten Lebensstandard annähernd sicherstellen“?

 

„Wir brauchen stattdessen“ (d.h. statt Hartz IV) „ein am vergangenen Einkommen orientiertes Arbeitslosengeld“,

 

das es im Prinzip immer noch gibt, über dessen Höhe und Dauer, die gerade der Dollpunkt bei der Hartz-Reform waren, man sich im Programmentwurf aber ausschweigt. Klar ist nur, dass auch eine linke Anstatt-Hartz-IV-Regelung das ordentliche Arbeitslosengeld nur für eine begrenzte Zeit und danach eine irgendwie geartete Verschlechterung der Unterstützung vorsehen würde, denn der Satz geht weiter:

 

„und eine bedarfsdeckende und sanktionsfreie Mindestsicherung, die Armut tatsächlich verhindert und die Bürgerrechte der Betroffenen achtet.“

 

Eine Mindestsicherung, von der schon der angestrengt beteuernde Tonfall verrät, dass es im Ernstfall strittig sein wird, wie viel es denn braucht, jemandes Armut „tatsächlich“ zu verhindern. Am Ende ist die „tatsächliche“ Armut eine statistische Größe. Die Formeln und Daten sind einerseits bekannt und andererseits interpretierbar und interpretationsbedürftig. Der Mensch, dem da die Armut droht, wird sich drein finden müssen. „Wir fordern“, verkündet man ihm,

 

„die Abschaffung erniedrigender Bedürftigkeitsprüfungen“.

 

Aber es soll sein Bedarf ja gedeckt werden, er wird ihn also offenlegen, einer behördlichen Prüfung aussetzen müssen, was schon an sich erniedrigend genug ist, so dass er auf den Spott der Beteuerung, es ginge doch alles an sich ganz erhebend zu, vermutlich gut verzichten kann. Und wenn der Mensch womöglich, weil er Glück hat und seinen Bedarf tatsächlich „tatsächlich“ leidlich gedeckt findet, nun noch gesteht, dass er, nach Jahren tariflich bezahlter zermürbender Maloche gemäß seiner Qualifikation, es ganz schön fände, erst einmal ein Jahr oder ein halbes locker auszuspannen, zumal der Arbeitsmarkt an Leuten seiner Qualifikation nicht eben Mangel leide, dann freut er sich bestimmt über das von der Linken versprochene

 

„Ende des Zwangs, untertariflich bezahlte oder der eigenen Qualifikation nicht angemessene Arbeit anzunehmen“

 

… und wird sich seinen Reim drauf machen müssen.

 

Leisten kann sich die Linke diese Garnierung des Elends auf kapitalistischen Erden durch fromme Wünsche, weil sie vorher bereits sich ideell daraus hinaus gebeamt hat.

 

„Ein wichtiger Grund für die Finanzprobleme der Sozialkassen“, heißt es da fast lapidar, „ist die Massenarbeitslosigkeit.“ Und die hat man links an sich – jedenfalls theoretisch – bereits im Griff. Das Nähere könnte nachgelesen werden in einem vorhergehenden Abschnitt über „Aktive Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik“ (a.a.O., S. 15; vgl. auch den darauf gemünzten Beitrag hier) Die Ausführungen darüber, wie die Linke „auch bei Arbeitslosigkeit … den vorher erreichten Lebensstandard annähernd sicherstellen“ will, stehen demnach offenbar unter der Prämisse, dass besagte „Finanzprobleme“ behoben, mithin die Massenarbeitslosigkeit beseitigt ist. Arbeitslosigkeit gibt es dann zwar weiterhin, aber nur noch als eines der persönlichen „Lebensrisiken wie Krankheit und Behinderung sowie Erwerbsunfähigkeit und …“ eben: „Arbeitslosigkeit“. So steht’s wortwörtlich im ersten Absatz des hier behandelten Abschnittes des Programmentwurfs geschrieben.

 

Politik geht anders. Und die wirklichen Politiker in der Linken wissen das zweifellos auch: Papier ist geduldig und Klartext wird anderswo geredet.

 

Proletarische Politik hätte dagegen zunächst auszusprechen „was ist“ (was wiederum nach dem schönen Wort Rosa Luxemburgs, das am Gebäude des Neuen Deutschland in Berlin prangt, die „revolutionärste Tat“ ist), und dann Programme zu machen, die eben darauf berechnet sind und nicht darauf, was sein könnte, wenn man dürfte wie man vielleicht möchte.

 

Die Massenarbeitslosigkeit ist eine Tatsache und wird es auf absehbare Zeit bleiben. Und für das Kapital ist die Massenarbeitslosigkeit das mächtigste Instrument, um die besitzlose Masse als willenloses Objekt seiner Bedürfnisse in vollkommener Abhängigkeit von seinen selbstherrlichen Dispositionen zu halten. Für die Emanzipation dieser Masse kommt es deshalb darauf an, diesem Instrument möglichst viel von seiner Wirkung zu nehmen. Während daher das Kapital die Unterstützung der Arbeitslosen so gestalten muss, dass deren Empfänger sich auf dem Arbeitsmarkt anbieten wie Sauerbier, müsste das seine Emanzipation betreibende Proletariat eine solche Unterstützung so organisieren, dass sie den Unterstützten nahelegt, sich vom Arbeitsmarkt möglichst lange fernzuhalten. Die Arbeitslosenunterstützung wäre dann so etwas wie eine gemeinsame Streikkasse der gesamten Klasse. Sie wäre es offiziell, denn potentiell ist sie es natürlich immer schon, weshalb es dem Kapital am liebsten wäre, es gäbe sie gar nicht. Ehe aber der Elendsdruck für die Proleten so unausweichlich wird, dass sie zur Selbsthilfe greifen, sieht das Kapital lieber zu, dass es, wenn schon denn schon, in der Arbeitslosenunterstützung sein Interesse geltend macht. Die staatliche bis halbstaatliche so genannte Arbeitsverwaltung hat das seit 1927 in Deutschland institutionalisiert, Hartz IV ist bloß die jüngste Weiterentwicklung davon.

Während also die Linke die Floskel „Weg mit Hartz IV!“ programmatisch fortbetet, um nicht offen eingestehen zu müssen, dass man etwas Besseres den Proleten nicht wirklich zu bieten hat, müsste unsere Losung heißen: „Weg mit der kapitalistischen Arbeitsverwaltung! Her mit der Selbstverwaltung der Arbeitslosenunterstützung allein durch die Lohnabhängigen!“

 

Und weil das natürlich – je nach Konjunktur – eine ziemlich teure Angelegenheit wird, weil außerdem alles darauf ankommt, in dieser Frage das Interesse der gesamten Klasse zur Geltung zu bringen, muss das ergänzt werden durch die Forderung nach Finanzierung dieser Unterstützungskasse allein durch das Kapital.

 

Analoges wäre – mutatis mutandis – für die anderen Sozialversicherungen zu entwickeln, womit dann auch die links so beliebte „Bürgerversicherung“ auf den proletarischen Prüfstand käme.


[1] Übrigens ist auf diese von den Gewerkschaften mitzuverantwortende enorme Vertiefung der Spaltung unter den Lohnabhängigen m. E. zuallererst zu verweisen, wenn deren Spitzen ihr Klagelied über den Verlust der so genannten „Tarifeinheit“ anstimmen und auf die notwendige Solidarität der „starken“ Spezialisten unter den Beschäftigten mit den „schwachen“ Durchschnittsbeschäftigten verweisen, die sie Ersteren nun mit dem Gesetzesknüppel einbläuen wollen.

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Kommentare: 1
  • #1

    Robert Schlosser (Freitag, 27 Mai 2011 18:08)

    Korrekte Linie!
    Grüße
    klaus_robert@t-online.de

Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

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