„Richtungsentscheidung“: Wo geht’s lang?

Ergebnisse des Landesparteitags der Linken Schleswig-Holstein Teil 2 und Ausblicke

Von Daniel Dockerill

„Der Kampf über die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit wütete um so heftiger, je mehr er, abgesehen von aufgeschreckter Habsucht, in der Tat die große Streitfrage traf, die Streitfrage zwischen der blinden Herrschaft der Gesetze von Nachfrage und Zufuhr, welche die politische Ökonomie der Mittelklasse bildet, und der Kontrolle sozialer Produktion durch soziale Ein- und Vorsicht, welche die politische Ökonomie der Arbeiterklasse bildet. Die Zehnstundenbill war daher nicht bloß eine große praktische Errungenschaft, sie war der Sieg eines Prinzips. Zum erstenmal erlag die politische Ökonomie der Mittelklasse in hellem Tageslicht vor der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse.“ (Karl Marx: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation. Oktober 1864)

Eine Richtungsentscheidung hätte der Landesparteitag der Linken am letzten Septemberwochenende treffen sollen. So jedenfalls die Ankündigung des neu gewählten Landessprechers im Vorfeld des Parteitags. Dem äußeren Verlauf nach hat der Parteitag die Frage der Richtung sozusagen salomonisch entschieden: Er hat zunächst einen Leitantrag verabschiedet, der in aller Ausführlichkeit jene Richtung beschreibt, für die der bisherige Landessprecher gestanden hat und weiterhin steht, und er hat dann, wenn auch äußerst knapp, einen neuen Landessprecher gewählt, der erklärtermaßen für eine Korrektur dieser Richtung steht, ohne jedoch über eine solche Korrektur selbst irgendeinen Beschluss gefasst zu haben. Und um das Sowohl-Als-Auch komplett zu machen, hat er dann noch den alten Sprecher, wenn auch nicht als Landessprecher, so doch als gleichberechtigtes Mitglied in den neuen Landesvorstand mit klarer Mehrheit wiedergewählt.

Eine Entscheidung ist also nicht gefallen auf diesem Parteitag. Umso mehr drängt sich die Frage auf, welche Entscheidung denn überhaupt angestanden hätte und worum es also in einer nun zu führenden Debatte gehen könnte.

In der sehr knappen Begründung seines schließlich zurückgezogenen Änderungsantrags hatte Björn Radke geschrieben: „Der vorliegende Entwurf eines Leitantrages spricht zwar von vielen politischen Feldern, zu denen die Partei arbeiten muss, lässt aber eine Schwerpunktsetzung für ein landespolitisches Profil vermissen.“ Der Antragsteller hatte keinerlei Änderung an dem vom Landesvorstand vorgelegten Antragstext gefordert außer der einen, dass dem Ganzen seine „Eckpunkte für ein landespolitisches Profil“ vorangestellt werden sollten. Das macht nicht gerade den Eindruck eines Unterschiedes politischer Richtungen oder gar zur Entscheidung stehenden Gegensatzes. Wer könnte schon ernsthaft dagegen sein, dass unser Landesverband in Fragen der Landespolitik Kompetenz und Profil gewinnt.

„Spielräume“

„DIE LINKE in Schleswig-Holstein fordert einen radikalen Politikwechsel, der die Wertschöpfungsbasis des Landes stärkt und zugleich auf die Beseitigung der sozialen Spaltung zielt.“ So in Björn Radkes eigenen Worten die Zusammenfassung seiner richtungweisenden Eckpunkte. Auf deren Einzelheiten wird unten näher einzugehen sein.

Überschrieben hat er sie mit dem Slogan: „Schleswig-Holstein für alle – sozial und solidarisch“. Die Parole fasst die politische Grundhaltung der Mehrzahl unserer Mitglieder und vielleicht auch unserer Wähler vermutlich ganz gut zusammen, steht aber zugleich in einem bemerkenswerten Kontrast zur politischen Rolle, die hierzulande die Linke wohl oder übel auf absehbare Zeit wird spielen müssen. Die große Mehrheit derjenigen, für die „alle“ die Linke da das Land umge­stalten soll, denken ja nicht im Traum daran, ihr den Auftrag dazu zu erteilen. Und ein Verbündeter, als dessen Juniorpartner die Linke politisch gestaltungsmächtig werden könnte, ist weit und breit ebenfalls nicht in Sicht. Die Linke bleibt, wenn’s einigermaßen gut geht, bis auf weiteres zur Opposition verdammt.

Dessen eingedenk wird von manchen in der Partei die Losung ausgegeben: „Aus der Opposition regieren!“ Gemeint ist damit wohl, dass eine wie auch immer zusammengesetzte Regierung auch ohne die Linke wegen der im Wahlvolk anwachsenden Zustimmung zu deren politischen Forderungen sich genötigt sehen könnte, diese aufzugreifen und wenigstens teilweise umzusetzen.

Eine schöne Idee, zweifellos. Es fragt sich nur, warum das politische Establishment sich derartige Umstände machen sollte. Wenn es denn so frei wäre, warum hat es dann nicht von vornherein solche Forderungen auf seine eigene Agenda gesetzt und damit womöglich verhindert, dass die Konkurrenz von Seiten der Linken erst ins Spiel kommt? Anders gefragt: Warum hat denn beispielsweise die große Koalition in Schleswig-Holstein „die ihr … zugewachsenen Spielräume“, der guten Laune des Wählers im Lande auf die Beine zu helfen, „allerdings“, wie Björn Radke in seinen Eckpunkten konstatiert, „nur begrenzt genutzt“? Stünde ihr denn überhaupt die Option offen, nicht festzuhalten etwa an jener von Björn Radke kritisierten „Politik … , die vor allem die Bediensteten des Landes belastet hat, am Ende aber auch die vielen Menschen in Schleswig-Holstein trifft, bei denen der konjunkturelle Aufschwung nicht angekommen ist?

Von „Widersprüchlichkeit und Konzeptionslosigkeit“ sei die Politik der Großen Koalition in Schleswig-Holstein gekennzeichnet, schreibt Björn Radke in einem seiner Kommentare nach dem Parteitag („Da geht kaum noch was“). Unseren Landesverband sieht er vor die Aufgabe gestellt, „den Bürger­Innen des Landes überzeugende Antworten auf die gegenwärtigen und kommenden Herausforderungen zu geben.“

Im vom Landesparteitag beschlossenen Leitantrag steht etwas anderes. „DIE LINKE“, heißt es da, „kämpft zusammen mit einer immer breiter werdenden Bewegung der gegenwärtig Erniedrigten und Beherrschten“ (Änderungsantrag1). Aber keine Frage: Der Tonfall solcher Formulierungen hat etwas schwer Altertümliches, beschwört den Sound scheinbar längst hinter uns liegender Zeiten, als die Erniedrigten und Beherrschten massenhaft zumindest noch ahnten, dass sie sich erniedrigen und beherrschen lassen, solange sie nicht, wie es im Beschluss weiter heißt, „für eine grundlegend andere Gesellschaft“ kämpfen. Und wie „breit“, von der Partei die Linke abgesehen, die „Bewegung“ wirklich ist, ob der größte Teil der „Erniedrigten und Beherrschten“, sofern er überhaupt politisch links steht, derzeit nicht eher abwartet, was die Linke auf der offiziellen politischen Bühne zustande bringt, statt sich selber unmittelbar einzumischen, darüber lässt sich gut streiten. Björn Radkes Diktion klingt auf Anhieb viel zeitgemäßer: Alle Menschen sind „BürgerInnen“ und als solche durch die Bank Leidtragende einer unfähigen Politik. Und die Linke, so Björn Radkes Versprechen, tritt nun an, die Politik wieder fit zu machen für „die gegenwärtigen und kommenden Herausforderungen“, von denen freilich im Nebel bleibt, wer denn da wen wozu eigentlich herausfordert. Zeitgemäß, in der Tat. Nämlich dem Zeitgeist angemessen, der bekanntlich, um es mit Oskar Lafontaines Worten zu sagen, „immer der Herren eigner Geist ist“.

Besagten „Herren“ ist es nur recht, wenn die Frage nach der Entscheidung für diese oder jene Politik gedeutet wird als Frage danach, was im Sinne eines unterstellten Allgemeininteresses vernünftig wäre. Und der herrschende Politikbetrieb samt seinem medialen Appendix tut ihnen den Gefallen seit Jahr und Tag, je mehr die Realitäten des gesellschaftlichen Alltags der Deutung Hohn sprechen, umso verbissener. Diese Sorte Politiker ficht es schon lange nicht mehr an, sich selbst buchstäblich zum Affen zu machen, der tagein tagaus versichern muss, dass all sein Tun und Lassen ganz selbstlos „den Menschen“ diene, und mit seinesgleichen darum wetteifert, wer es jener anderen Spezies am besten besorge. Es darf halt um keinen Preis mehr herauskommen, dass unter den wirklichen Menschen ein solches ihnen allen gemeinsames Interesse gar nicht existiert, auf das Politik sich beziehen könnte; dass vielmehr umgekehrt der Widerstreit unvereinbarer menschlicher Interessen so etwas wie Politik, das Durchsetzen bestimmter Interessen auf Kosten anderer, erst möglich und auch nötig macht; dass also Politik, ob sie will oder nicht, unter „den Menschen“ immer parteiisch ist.

„Wertschöpfung“

Insofern stiftet bereits die Rede vom „radikalen Politikwechsel“, den nach Björn Radke (s.o.) die Linke „fordert“, eher Verwirrung, als dass sie deren Absichten und Aufgaben erhellte. Ein radikaler Wechsel wäre zuallererst ein Machtwechsel. Nicht im Sinne der Ersetzung einer politischen Mannschaft durch irgendeine andere, sondern als Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen den gegensätzlichen gesellschaftlichen Interessen, denen das politische Geschehen sich verdankt und einen mehr oder weniger klaren Ausdruck verleiht. Einen solchen Machtwechsel „fordert“ man nicht, sondern man arbeitet an ihm, bereitet ihn vor und führt ihn nach Möglichkeit schließlich herbei. „Politikwechsel“, denen kein solcher Machtwechsel zugrunde liegt, beschränken sich notgedrungen auf einen Wechsel im Rahmen der politischen Optionen, die in jeweils verschiedenen Varianten immer demselben Interesse zur Durchsetzung verhelfen.

Nehmen wir beispielsweise die ominöse „Wertschöpfung“, deren Basis jener von Björn Radke angepeilte „Politikwechsel“ in Schleswig-Holstein zu stärken verspricht. Der Schöpfung von „Wert“, das weiß selbst jeder ordinäre Volkswirtschaftler oder ahnt es zumindest, liegt Arbeit zugrunde. Viel Wert gibt’s nur mit viel Arbeit. Und da die meisten Menschen auch hierzulande nichts anderes besitzen, das sie regelmäßig zu Geld machen können, als ihre Arbeitskraft, dürften sie sicherlich Hoffnung schöpfen, wenn jemand ihnen eine Steigerung der Nachfrage nach Arbeit im Lande in Aussicht stellt. Gesteigerte Nachfrage nach Arbeit, Verminderung des Überangebots bei deren Zulieferern erhöht den Preis und beseitigt fürs erste so manche Existenznot. So möchte man glauben.

Nun sind aber die Schöpfung von Wert, also das Arbeiten selbst, auf der einen Seite und die Nachfrage nach Menschen, die diese Arbeit leisten sowie deren Bezahlung auf der anderen Seite zwei durchaus verschiedene Paar Schuhe. Das Kapital, ob groß oder klein, mit seiner ganz speziellen Ökonomie der Arbeit kennt Mittel und Wege, die Wertschöpfung beträchtlich zu steigern, ohne die Nachfrage nach Lieferanten von Arbeit und vor allem deren Preissumme nennenswert zu erhöhen. Bewährt hat sich hier schon immer und namentlich wieder in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart die Ausdehnung und Verdichtung der Arbeitszeit pro Beschäftigte. Die entsprechenden Zahlen für Schleswig-Holstein zusammenzutragen und auszuwerten müsste bei der Entwicklung eines landespolitischen Profils unbedingt einen Schwerpunkt bilden. Und es sollte Konsens der Linken dieses Landes sein, dass wir eine solche Stärkung der Wertschöpfungsbasis nicht nur nicht wollen, sondern in jedem Fall bekämpfen.

Was aber ist ansonsten davon zu halten, die Wertschöpfung, d.h. die im Lande aufgebrachte Arbeitsmenge zu erweitern oder jedenfalls ihrer Schrumpfung entgegenzuwirken?

Bliebe die Arbeitszeit bzw. ‑menge pro Beschäftigte unverändert, dann könnte die Gesamtmenge an geleisteter Arbeit und damit der Umfang der Wertschöpfung nur über die Erhöhung der Zahl der Beschäftigten gesteigert werden, und daran dürfte zunächst wohl niemand in der Linken Anstoß nehmen. Jedoch trägt längst nicht jede Arbeitsleistung auch zur Wertschöpfung bei. Diese findet nur statt, wo die Arbeit verkäufliche Waren[1] produziert, und das heißt in aller Regel kapitalistische, also profitträchtige Waren. Der ganze Bereich der sogenannten Daseinsvorsorge etwa, sofern er noch öffentlich ist, trägt, so viel und gut auch immer dort gearbeitet wird, meist keinen Cent zur Wertschöpfung bei, wird vielmehr seinerseits aus bereits geschöpftem Wert, nämlich Steuern finanziert. Daraus erklärt sich zum guten Teil, warum das Kapital und alle, die sich seiner Logik verschrieben haben, auf die Privatisierung dieses Bereichs so erpicht sind. Auch hier also erweisen sich die Interessen derjenigen, die von der Verwertung ihres oder ihnen anvertrauten Kapitals leben, als höchst verschieden von den Interessen derjenigen, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen und denen es vernünftigerweise zumindest egal sein kann, ob gegebenenfalls ihre Arbeit auch zur Wertschöpfung beiträgt oder einfach nur nützlich ist.

„Krisenprozesse“

Zweck kapitalistischer Produktion ist im Übrigen nicht bloße Wertschöpfung, sondern Abschöpfung von Mehrwert. Das Produkt muss nicht nur überhaupt Geld einbringen, sondern Profit, d.h. mehr Geld, als seine Produktion gekostet hat. Dass dieses Wunder im Regelfall gelingt, liegt an dem glücklichen Umstand, dass die normalen Kosten der Arbeitskraft ungleich geringer sind, als ihr Einsatz in der Produktion an Wert erbringt. Anders ausgedrückt heißt das nur, dass ein sehr geringer und sich weiter verringernder Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags dazu nötig ist, alle Mittel zu produzieren, die für den täglichen Erhalt aller im Einsatz befindlichen Arbeitskräfte nötig sind, einschließlich der für ihren Ersatz oder ihre Ergänzung bereitstehenden Reservekräfte.

Zur Vergrößerung des Mehrwerts stehen dem Kapital grundsätzlich zwei Wege offen: Der erste besteht in der Verlängerung der regulären Arbeitszeit pro Tag, Woche, Monat etc, denn die Kosten für den Lebensunterhalt der Arbeitskräfte bleiben weitgehend dieselben, ob sie nun länger oder kürzer dafür arbeiten müssen. Eine Grenze setzt hier allerdings zunächst die Natur, dann aber vor allem der Widerstand der sich gewerkschaftlich und politisch organisierenden Arbeitskräfte selbst. Der zweite Weg besteht daher in der Verringerung der Kosten für die Arbeitskräfte durch eine Steigerung ihrer Arbeitsproduktivität, die ihren Lebensunterhalt verbilligt. Je billiger der Lebensunterhalt der Arbeitskraft, desto größer ist der Teil ihrer Arbeitszeit, in dem sie faktisch nicht für sich selbst arbeitet, sondern für das Kapital, das sie eingekauft hat. Auf diese Weise wachsen trotz gegebener Grenze der Gesamtarbeitszeit dennoch die Mehrarbeitszeit und damit der Mehrwert, auf den es das Kapital abgesehen hat.

Die fortwährende systematische Steigerung der Arbeitsproduktivität ist die historische Leistung des Kapitalismus. Erhöhung der Arbeitsproduktivität bedeutet aber: Verringerung der Arbeit, daher Verringerung der Wertschöpfung, die für das jeweilige Produkt anfällt. Das Kapital hat so durch Unterwerfung der gesellschaftlichen Arbeitskräfte unter sein Kommando im Verlauf seiner Geschichte diese dazu getrieben, dass sie mit einem immer geringeren Arbeitsaufwand ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Zugleich aber brachte und bringt es sie systematisch um die Frucht dieser Leistung. Der historisch aufgehäufte gesellschaftliche Reichtum an überschüssiger, von Arbeit für das Lebensnotwendige befreiter Zeit bleibt gebannt in das Maß des Werts, das Reichtum nur als Arbeitszeit kennt. Der Überfluss an Zeit, statt den Arbeitskräften zu ihrer freien Verfügung zu stehen, verwandelt sich in schöner Regelmäßigkeit für den einen Teil von ihnen in ihre eigene Überflüssigkeit in Form massenhafter Arbeitslosigkeit und für den anderen in gesteigerten Zwang zur Mehrarbeit fürs Kapital. Dies ist das spontan immer wieder sich durchsetzende Gesetz des Fortschritts, solange dieser an jene „Wertschöpfung“ gebundenen bleibt, auf die Björn Radke nun auch die Linke verpflichten möchte.

Derart programmiert müsste diese die „Aufklärung“ wohl oder über schuldig bleiben, die Björn Radke an anderer Stelle (Rechtspopulismus und Fremdenfeindlichkeit) einfordert. Zwar trifft er, wenn er dort „von Krisenprozessen“, spricht, „die in ihren Ursachen unbegriffen bleiben“, damit an sich den Nagel auf den Kopf, hat aber selber offensichtlich kaum wirklich etwas begriffen. „Gesellschaftlicher Wandel“, heißt es dort weiter, „wird zu einem quasi natürlichen Prozess, dem die Menschen ausgesetzt sind und den auch Politik nicht mehr entscheidend beeinflussen kann.“ Womit wir wieder angelangt wären bei jener merkwürdigen Teilung der Welt in hier „die Politik“ und dort „die Menschen“, die der herrschende Politikbetrieb regelmäßig vornimmt, wenn er öffentliche Nabelschau hält.

„Verteilungsfrage“

Näher besehen sind „die Menschen“ besagtem Prozess in höchst verschiedener Weise „ausgesetzt“, je nachdem, welche Rolle sie darin spielen, und in eben diesen Rollen findet auch das Begreifen von „Ursachen“ seine Schranke. Es bereitet ja an sich keine besondere Schwierigkeit, die Richtung anzugeben, in der diejenige Auflösung der Krise zu suchen ist, die für den Großteil ihrer Leidtragenden die einzig vernünftige wäre. Die entsprechende Forderung und der Kampf um sie steht seit ihren ersten Anfängen auf der Agenda der Arbeiteiterbewegung aller Länder: drastische Verkürzung der Regelarbeitszeit. In Björn Radkes Eckpunkten sucht man sie vergeblich. Sie würde auch, wie wir gesehen haben, nicht recht hineinpassen. Ohne die Frage des Umfangs und der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeitszeit verfehlt aber die „Verteilungsfrage“, die Björn Radke ins „Zentrum“ von „Aufklärung über die Ursachen der Fehlentwicklung“ gerückt wissen will, des Pudels Kern. Der allerdings ist bekanntlich des Teufels, mit welchem im Bunde zu stehen, natürlich niemand sich gerne nachsagen lässt.

Auch der vom Parteitag beschlossene Leitantrag hält sich hier auffällig zurück. Über „erste Schritte in der Bekämpfung der Armut“ hinaus, heißt es da, bleibe „die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der kleinen Einkommen“ notwendig. Aber der Niederschlag des materiellen Reichtums der Gesellschaft in Form größerer oder kleinerer Einkommen ihrer Mitglieder ist bloß die Folge ihrer Teilung in Arm und Reich schon bei dessen Produktion. Mit der Umverteilung von Einkommen wäre man also über „erste Schritte“ noch kein Stück hinaus. Ein gewichtiger Teil des gesellschaftlichen Reichtums, nämlich die sachlichen Mittel seiner Produktion, kommt überhaupt nicht als Einkommen zur Verteilung, sondern ist, als „Vermögen“ monopolisiert durch einen Teil der Gesellschaft, seinerseits stetige Quelle einer speziellen Sorte Einkommen. Einkommen, das man sich nicht mangels anderen Vermögens durch Vermietung seiner Arbeitskraft (oder die nachgewiesene Bereithaltung dazu) erst „verdienen“ muss, weil es sich – das ist der geheime Sinn jenes Monopols – aus der überschüssigen Arbeit des anderen Teils der Gesellschaft speist.

Die Beschränkung dieser Mehrarbeit durch nachhaltige Verkürzung der Regelarbeitszeit, am besten durch ein allgemeines Gesetz: Dieses Anliegen gehörte ins Zentrum linker Aufklärung über die „Verteilungsfrage“ bei jeder Massenentlassung oder Kurzarbeit, bei jeder Meldung über neue Arbeitslosenzahlen. Nicht unbedingt als Heilmittel gegen eine abstürzende oder darniederliegende Konjunktur, sondern zur Beförderung des Zusammenschlusses „der gegenwärtig Erniedrigten und Beherrschten“ auf der Grundlage des ihnen wirklich gemeinsamen Interesses, das sie nicht festnagelt auf die subalternen Rollen im Dienste der Kapitalverwertung bei der Bestückung von „Arbeitsplätzen“ und der Belebung des „Binnenmarkts“.

Mit solcher Art Aufklärung wären wir bei „den Bürger­Innen des Landes“ oder „den Menschen in unserem Land“, die leider auch der beschlossene Leitantrag bemüht, natürlich an der falschen Adresse, weil so manche Bürgerin und Mensch in ihr jede Rücksicht auf die eigenen Interessen durchaus zu Recht vermissen würde. Schon jetzt melden sich, wenn es gilt, das Ansinnen eines gesetzlichen Mindestlohns propagandistisch abzuwehren, in schöner Regelmäßigkeit die Vertreter von Mittelstand und Kleingewerbe als erste zu Wort mit der Klage, ob man sie etwa vollends in den Ruin treiben wolle. Es braucht wenig Phantasie, sich ihren Aufschrei vorzustellen, wenn sie erfahren, dass sie den ruinösen Mindestlohn in gleicher Höhe womöglich auch noch bei deutlich verringerter Arbeitszeit zahlen sollen.

Kräfteverhältnisse

Schön, wird man jetzt vielleicht einwenden, alles irgendwie richtig, aber völlig unrealistisch; politisch zurzeit nicht im Mindesten durchsetzbar. Die Kräfteverhältnisse seien nicht danach. Womit wir immerhin ein Stück weiter wären, nämlich hinaus über die gedankenlos formelhafte Bezugnahme auf „BürgerInnen“ oder gar „Menschen“.

Die Frage nach den Kräfteverhältnissen ist die Frage nach der Durchsetzungs- bzw. Beharrungskraft sozialer Interessengruppen (altmodisch: Klassen), die miteinander im Konflikt stehen. In der Tat scheint es mit der Durchsetzungskraft derjenigen, die nichts als ihre Arbeitskraft in die Wagschale zu werfen haben, derzeit nicht weit her zu sein. In den nach wie vor von der Sozialdemokratie beherrschten Gewerkschaften ist man schon seit längerem darauf verfallen, mit Verweis auf die Massenarbeitslosigkeit vor den Begehrlichkeiten der sogenannten Arbeitgeber ein ums andere Mal zurückzuweichen und wirtschaftspolitische Rettung von höherer Warte einzufordern.[2] Die Hartz-Gesetze und andere Liebenswürdigkeiten sind die Quittung und haben einmal mehr bewiesen, dass eine über den widerstreitenden sozialen Kräften waltende höhere Instanz nicht existiert, mithin auch keine Alternative zu Entwicklung und Einsatz der eigenen Kräfte.

Die soziale Kraft der Habenichtse, die wir alle sind, ist neben unserer Zahl (über die man vielleicht streiten kann) vor allem der Umstand, dass von der Verfügung über unsere Arbeitskraft der ganze Rest der Gesellschaft auf Gedeih und Verderb abhängt. Ohne diese Verfügung schrumpfen alle Macht und Herrlichkeit des Besitzes ins Nichts. Leider aber liegt dieser Umstand nicht offen zutage. Es scheint immerzu genau umgekehrt zu sein: Die Schöpfung von Wert, statt Ergebnis unseres produktiven Tuns, scheint vielmehr die Bedingung zu sein, dass wir überhaupt etwas Produktives tun und dann auch existieren können. Arbeitsplätze gibt es scheinbar nicht, weil und insofern wir dort arbeiten, sondern wir scheinen bloß zu arbeiten und zu existieren, weil und insofern es Arbeitsplätze gibt usw. – So legt unsere eigene alltägliche Erfahrung es uns nahe. Nur in sozialen Ausnahmesituationen wie etwa einem größeren Arbeitskampf fällt manchmal ein Schlaglicht auf die untergründige wirkliche Abhängigkeit der Reichen und Mächtigen von unserer tagtäglichen Arbeitswilligkeit. Und darin enthüllt sich auch das Geheimnis unserer Kraft: Solidarität unter den Habenichtsen, die erwächst aus der organisierten Aufkündigung jeder Solidarität mit den Herren (und gelegentlich auch Damen) der Wertschöpfung. An der Entwicklung dieser bestimmten Solidarität hätte eine Linke zu arbeiten, die das vielbeschworene Versprechen einer „anderen Politik“ nicht bloß ummünzt in einen Katalog gut klingender politischer Absichten zur Einwerbung von Wählerstimmen, sondern mitwirkt an der Schaffung der Voraussetzungen, die eine von der herrschenden sich substanziell unterscheidende Politik erst möglich machen.

Wessen Partei?

Eine solche Linke wäre dann auch davor gefeit, in das Zwielicht von Bekenntnissen zu geraten, wie es unserer frisch gekürten Landessprecherin in ihrer Entgegnung auf Ralf Idens Kritik passiert ist. Die Linke, schlägt sie dort vor, könne und sollte „auch die Partei der vielen kleinen und mittleren Unternehmerinnen und Unternehmer werden, die unter dem Kaufkraftverlust der Masse der Bevölkerung ökonomisch leiden und deren Interessen sich immer mehr von denen der Finanz- und der internationalen Konzerne unterscheiden.“ Vor dem hier angedeuteten Feindbild eines der heimatlichen Scholle entfremdeten Großkapitals verblasst gewissermaßen ganz natürlich der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit an der produzierenden Heimatfront. Aber für das einheimische Kapital, ob groß, klein oder auch ganz klein, ist und bleibt die Kaufkraft der einheimischen „Masse der Bevölkerung“ – soweit bei ihm beschäftigt sowieso, aber auch sonst – ein Kostenfaktor, den es nach Möglichkeit zu minimieren hat, wenn es nicht gegen die Regeln seiner Daseinsweise verstoßen will. Abgesehen davon wäre erst noch zu untersuchen, wie viele der „kleinen und mittleren Unternehmerinnen und Unternehmern“ im Lande überhaupt für den Konsum der „Masse der Bevölkerung“ produzieren und nicht vielmehr für den Bedarf anderer hiesiger Unternehmen oder den Export. Es ist ja keineswegs bloß neoliberale Propaganda, dass Deutschlands Exportweltmeisterschaft auch die Existenzgrundlage des vielgeliebten deutschen Mittelstandes sichere. Und was „die zukunftsträchtigen Wirtschaftsfelder“ angeht, für die Björn Radke „öffentliche Investitionen“ mobilisieren möchte, so dürften auch diese in der Produktion von Gütern des einheimischen Massenkonsums kaum ihren Schwerpunkt haben.

Bevor also die Linke – in der einen oder anderen Frage – „auch Partei“ des einen oder anderen Teils des hiesigen Unternehmertums eventuell werden sollte, hätte dieser vernünftigerweise erst einmal die Partei der lohnabhängigen Bevölkerung – in der einen oder anderen Frage – zu ergreifen: z.B. sich für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns einzusetzen, von dem man gut leben kann. Dann reden wir weiter. Bis es soweit ist, hätten wir an sich genug damit zu tun, die realexistierende Linke in Programm und Praxis zur Partei derjenigen zu machen, denen es, obwohl sie den größten Teil der Bevölkerung stellen, am meisten daran mangelt. An Parteien, die „auch Partei“ des in der deutschen Erde wurzelnden Unternehmertums sind, aber selbstverständlich vor allem („sozial ist, was Arbeitsplätze schafft“) das Wohl des schaffenden Volkes im Auge haben, herrscht dagegen überhaupt kein Mangel.

Aber vielleicht wollen wir ja mehr auch nicht, als mit den derzeit umgefragten zehn Prozent plus x an Wählerstimmen auf schnellstem Weg bald auch im Westen im herrschenden Politikbetrieb ein bisschen mitzumischen. Vielleicht ist uns das Ziel, eine Partei zu schaffen, die der lohnabhängigen „Masse der Bevölkerung“ dazu verhülfe, eine ihrem enormen sozialen Gewicht wirklich entsprechende, eigenständige politische Kraft zu werden, und sie so aus der Rolle des Stimmviehs für die diversen Parteien von Kapital und Mittelstand befreite, viel zu ehrgeizig.

[Red. Anm. v. Okt. 2024: Hier nachträglich dokumentierter zweiter Teil eines Debattenbeitrags auf der Webseite des Landesverbands der Partei DIE LINKE in Schleswig-Holstein, der dort nicht mehr zugänglich ist. Dementsperechend gehen auch die Verweise (links) dieses Beitrags auf darin zitierte Dokumente mittlerweile ins Leere. Siehe auch den hierzugehörigen ersten Teil.]


[1] Das können auch Dienstleistungen sein. Entscheidend ist, dass sie verkäuflich sind, ihre Inanspruchnahme also einen Preis hat.

[2] Einen Blick auf ein Stück des Scherbenhaufens solcher Gewerkschaftspolitik gewährt Cornelia Möhring in ihrer Entgegnung auf Ralf Idens Kritik am Änderungsantrag Björn Radkes, wenngleich ihre sich daran anschließenden Überlegungen (s.u.) reichlich schräg erscheinen.

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Kommentare: 1
  • #1

    Daniel (Sonntag, 13 Oktober 2024 19:48)

    In einem derzeit nach wie vor noch zugänglichen Kommentar Edith Bartelmus-Scholichs vom 11.8.2009 zu den seinerzeitigen Auseinadersetzungen in der LINKEN.SH finden sich von den im obigen Beitrag zitierten Dokumenten sowohl der „Leitantrag" des Landesvostands als auch Björn Radkes „Eckpunkte“ im Anhang vollständig wiedergegeben: https://www.elo-forum.org/threads/die-linke-schleswig-holstein-grabenkaempfe-gehen-in-schlammschlacht-ueber.43515/
    Was aus Björn Radke inzwischen geworden ist, dazu siehe hier: https://gruene-ov-trave-land.de/bjoern-radke/

Nicht seine Kritik der politischen Ökonomie lieferte Marx den Schluss auf jenes „revolutio-näre Subjekt“ namens „Prole-tariat“ – herleiten lässt sich aus ihr nichts dergleichen –, son-dern genau andersherum be-gründete die schiere Evidenz des Daseins und Wirkens die-ses Subjekts allererst eine Kritik der politischen Ökonomie, die das Kapital als „Durchgang“ hin zur menschlichen Gesellschaft diagnostiziert. Striche man da-gegen aus der Marxschen Di-agnose dieses einzige wahrhaft historisch-subjek­tive Moment darin aus, bliebe von ihr nur das Attest eines unaufhaltsa-men Verhängnisses.(*)

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